Kulturbanausen Wenn Manager der Musik hinterher dirigieren
Den meisten deutschen Unternehmen dient Kultur allenfalls als Feigenblatt, beklagt Buchautor Markus Reiter: Nur wenige kümmern sich um die kulturelle Bildung ihrer Mitarbeiter. Dabei fördern Musik, Theater und Töpferei geistige Offenheit - und Führungskräfte bewegen sich sonst oft nur unter ihresgleichen.
Wenn Simone Krahl von ihrem Theaterauftritt vor den Geschäftsführern und ihren Führungskräfte-Kollegen erzählt, klingt sie noch immer ganz beseelt. "Es hat super geklappt. Aber ich war überrascht, auf wie viele Details man gleichzeitig achten muss: den Text, die Gestik und die Absprache mit den Kollegen auf der Bühne, also zum Beispiel auf welcher Seite ich von der Bühne gehe oder wann man welche Requisiten einbringt."
Simone Krahl, 38, spielte Doris, ein Mädchen aus armen Verhältnissen im Berlin der dreißiger Jahre, in einer Szene einer Dramafassung des Romans "Das kunstseidene Mädchen". Jenseits der Bühne ist sie Gebietsverantwortliche bei der Drogeriekette "dm", die vergangene Woche wegen eines anrüchigen Anzeigensponsorings für das Bundesgesundheitsministerium in den Schlagzeilen war.
Noch wichtiger als die Aufführung ihres Stücks waren für Krahl jedoch die Proben mit ihren 21 Mitspielern aus unterschiedlichen Abteilungen, vom Produktmanagement bis zum Verkauf. Die jüngste Mitspielerin war 23 Jahre alt, die älteste Mitte 50. Krehl erlebte spielerisch mit, wie unterschiedlich Menschen an die gleiche Aufgabe herangehen. Wie man damit umgeht, wenn eine Szene geschmissen wird und die Mühe des Textlernens vergeblich war. Wie man Bühnenangst bewältigt, wie man aus unterschiedlichen Interpretationen eine gemeinsame Inszenierung schafft.
"Manchmal gelingen Dinge auch, wenn man zwei Schritte vor geht und drei zurück. Der gemeinsame Weg, den man mit den Kollegen geht, ist ausschlaggebend", bilanziert Krahl. "Nicht in Schubladen zu denken, sondern sich die Offenheit zu bewahren und jedem unvoreingenommen zu begegnen - das konnte ich in meinen Arbeitsalltag mitnehmen."
Kultur? Was soll das bringen?
Das Theaterprojekt mit dem Titel "Theater(t)räume" ist Teil der Kulturarbeit für Mitarbeiter der Drogeriekette. Kulturelle Bildung soll das tägliche Miteinander verändern. Ein solches Programm ist noch immer eine große Ausnahme.
Selbst auf der Webseite des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft, der dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) angegliedert ist, finden sich nur wenige Beispiele für Firmen, die Kulturarbeit für ihre Mitarbeiter anbieten. Und einige davon sind alles andere als ermutigend: So pflegte die Westfalenbank ihre Kundenberater in Kunstfragen weiterzubilden, damit sie sich mit reichen Privatkunden auch einmal über Neo Rauch und die Leipziger Schule unterhalten konnten. Leider ist die Bank inzwischen pleite.
Auf das "Was" kommt es weniger an als auf das "Wie"
Beim mittelständischen Maschinenbauer Voith im württembergischen Heidenheim an der Brenz stand schon seit Mitte der fünfziger Jahre für die Lehrlinge Malen, Töpfern, Schnitzen auf dem Ausbildungsplan. "Das hat bei uns also eine lange Tradition", sagt Pressesprecher Markus Woehl. Der Enkel des Firmengründers, Hanns Voith, fühlte sich der Anthroposophie und der Waldorf-Pädagogik verbunden.
Ein Bildhauer arbeitet heute im Werk Heidenheim mit den Auszubildenden. In den Ateliers entstehen Arbeiten auf der Leinwand oder in Ton, in den Werkstätten große Skulpturen. Doch auf das "Was" kommt es Voith weniger an als auf das "Wie", heißt es aus dem Unternehmen. Die Azubis sollen lernen, etwas zu erstellen, bei dem sie nicht von Anfang an wissen, wie das Resultat aussehen wird. Transferfähigkeit heißt das im Fachjargon. Künstlerische Betätigung sei ein Mittel, Kompetenzen auszubilden, wie sie mit klassischer Lehre nur schwer zu vermitteln sind, sagt Woehl.
Die Anthroposophie spielt auch bei der Drogeriekette "dm" eine entscheidende Rolle. Gründer Götz Werner hängt dieser Weltanschauung an. "dm" lädt immer wieder Künstler als Coaches ein. Simone Krahl zum Beispiel hat schon Mal- und Töpferkurse mitgemacht. Die Theaterarbeit mit Lehrlingen gibt es schon lange, das Projekt "Theater(t)räume" für alle Mitarbeiter erst seit 2010.
Kulturelle Bildung bislang nur in Sonntagsreden
Solches Engagement würde Stephan Frucht gern öfter sehen. "Sonntagsreden über kulturelle Bildung haben wir schon genug gehört", sagt der Geschäftsführer des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft. "In Wirklichkeit ist aber das Verhältnis von Ankündigung und Wirkung hier so unerfreulich wie in kaum einem anderen Bereich. Deshalb kommt es darauf an, die vielen guten Ideen endlich umzusetzen."
Viele Führungskräfte sind in ihrer Rolle gefangen. Ihre Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, verkümmert, je länger sie sich in der Karrieretretmühle bewegen. Der Blick verengt sich, zumal viele Manager nur mit ihresgleichen Kontakt pflegen. Dabei könnten sie von Künstlern eine Menge lernen - etwa Kreativität, den Mut zum Risiko und zur Extravaganz. "Vieles davon ist mit der Angestelltenmentalität nicht zu vereinbaren", so Frucht.
Im "Cultural Executive Education Program" sollen Führungskräfte durch Kunst ihre sozialen Fähigkeiten ausbauen. Zum Beispiel im Dirigierworkshop. "Die meisten Manager versuchen zunächst, der Musik hinterher zu dirigieren", erzählt Stephan Frucht, selbst ausgebildeter Musiker. Ein Dirigent aber muss den Musikern voraus dirigieren. Eine Frage des Timings also, auf das es auch in Büros und Chefetagen ankommt.
Im Workshop mussten die Teilnehmer schon einmal eine abstrakte Skulptur schaffen und sie dann vor dem Kölner Hauptbahnhof errichten - ohne Genehmigung. "Künstler haben Managern in der Wirtschaft oftmals voraus, dass sie mit solchen Unsicherheiten umgehen können, diese sogar bewusst suchen", sagt Frucht. Allerdings können auch Personalabteilungen nicht gut damit umgehen. Dort denkt man noch allzu häufig schematisch: Einmal Theaterspielen - was bringt das genau und messbar an Soft-Skill-Zuwachs?
Kultur zahlt sich bei der Karriere aus
Eine falsche Sichtweise, findet Vanessa-Isabel Reinwand, Professorin an der Uni Hildesheim auf dem in Deutschland bislang einzigen Lehrstuhl für Kulturelle Bildung: "Kulturelle Bildung erscheint vielen Führungskräfte zunächst als Zeitverlust auf dem geraden Weg nach oben. Aber ich bin davon überzeugt, dass sich jede Beschäftigung mit Kultur irgendwann im Laufe der Karriere auszahlt." Sie sehe es an ihren eigenen Hildesheimer Studenten: Diejenigen, die sich mit Kunst und Kultur beschäftigten, gehörten zu den "besten, mit denen ich je zu tun hatte".
Wissenschaftliche Studien, ob kulturelle Bildung bei Führungskräften einen "anderen Blick auf die Welt und sich selbst" eröffnet, wie Reinwand hofft, gibt es noch nicht. Zu sehr hat sich die Wissenschaft bislang auf kulturelle Bildung bei Kindern und Jugendlichen konzentriert. Inzwischen existiert auch eine Reihe von Projekten in der Seniorenarbeit. Um die mitten im Arbeitsleben stehenden Arbeitnehmer kümmert sich bislang hingegen kaum jemand.
"Ich bin in der DDR aufgewachsen. Dort gab es ein großes Sportangebot, weshalb sich meine Freizeitaktivitäten hauptsächlich darum drehten. Durch die kulturellen Möglichkeiten bei 'dm' hat sich mein Blick auch für Künste, zum Beispiel die Malerei und Theater, geöffnet", sagt Simone Krahl. Diese Ausgangssituation ist gerade bei Führungskräften der mittleren Ebene nicht selten. Bildungsbürgerliche Elternhäuser, in denen Kinder ganz selbstverständlich ein Instrument lernten und mit bildender Kunst konfrontiert wurden, schwinden. In vielen Ganztagsschulen und während der straffen Hochschulausbildung bleibt kaum Zeit für Chor, Orchester, Malkurs und andere kulturelle Interessen.
Man müsse, sagt Kulturkreis-Geschäftsführer Frucht, in vielen Fällen die blockierten Synapsen für Kreativität aktivieren. "Denn nichts ist nachhaltiger, als wenn sich durch Kunst und Kultur das Gehirn verändert und sich neue Sichtweisen eröffnen."
