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Anonymes Lehrergeständnis Wie die Schule mich krank macht

Inklusion, jahrgangsübergreifender Unterricht: Hier erzählt eine Berliner Grundschullehrerin, dass sie eigentlich hinter diesen Ansätzen steht - und warum ihr trotzdem alles über den Kopf wuchs.

"Es war ein normaler Schultag, die Kinder arbeiteten in ihren Heften, da bekam ich plötzlich keine Luft mehr und stechende Schmerzen im Brustkorb. Ich ging auf die Toilette und an die frische Luft, aber es wurde nicht besser. Ich dachte, ich hätte vielleicht einen Herzinfarkt. Ich fuhr zu meiner Hausärztin, doch sie fand nichts und schickte mich wieder nach Hause.

Ich weinte viel und wollte nur Ruhe. Die Schmerzen ließen langsam nach, und ich dachte, am nächsten Tag könnte ich wieder in die Schule gehen. Doch der nächste Tag kam näher, und ich weinte immer noch die ganze Zeit. Ich bin eigentlich gern Lehrerin. Ich weiß auch, dass ich es eigentlich kann. Aber ich schaffte es trotzdem nicht, in die Schule zurückzukehren, weil ich viel zu erschöpft und labil war.

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Foto: Armin Weigel/ DPA

Erst nach mehreren Wochen konnte ich akzeptieren, dass ich Burn-out habe. Nach einigen Monaten habe ich endlich den Gedanken angenommen, dass dazu auch eine mittelschwere Depression gehört. Ich bin nun seit einem halben Jahr krankgeschrieben.

Ich habe an einer Schule gearbeitet, die schon längst zusammengebrochen wäre, wenn sich nicht so viele Kolleginnen und Kollegen permanent über ihre Grenzen hinweg engagieren würden. Wir sind eine Inklusionsschule und nehmen Kinder auf, die andere Schulen abgelehnt haben. Hinzu kommen Schüler, die kaum Deutsch sprechen und die allein deshalb mehr Zeit und Unterstützung brauchen.

Ich finde Inklusion gut, genau wie den jahrgangsübergreifenden Unterricht, den unsere Schule auch anbietet. Das sind die einzig sinnvollen Methoden, mit deren Hilfe die Kinder lernen, dass es auf der Welt viele unterschiedliche Menschen gibt, die alle positive Eigenschaften haben.

Aber beides funktioniert nur, wenn mindestens zwei Lehrer in der Klasse sind. De facto war ich jedoch die meiste Zeit allein, weil Kollegen krank oder auf Klassenfahrt waren. Und eine einzelne Lehrkraft kann nicht allen Kindern gerecht werden.

Manchmal bekam ich über Wochen nicht mit, wenn ein stilles, braves Mädchen in Mathe zurückfiel. Wenn Schüler sehr selbstständig arbeiten und ihnen niemand hin und wieder über die Schulter schaut, weil dafür die Zeit fehlt, können sie sich um Aufgaben drücken. Sie verlieren dann den Anschluss und beginnen, Mathe doof zu finden. Dabei ist Mathe ein tolles Fach!

Wenn Kinder Grenzen austesten

Dann kam ein Quereinsteiger an unsere Schule, von denen Berlin viele eingestellt hat, um den Lehrermangel aufzufangen. Wir sollten uns eine Klassenleitung teilen, aber er hatte überhaupt kein pädagogisches Handwerkszeug und war total überfordert.

Ich bin seit 20 Jahren Lehrerin und wenn ich einen Klassenraum betrete, erfasse ich innerhalb von Sekunden: Was ist los? Wo muss ich eingreifen? Was kann ich noch laufen lassen? Der Quereinsteiger jedoch nahm viele Dinge überhaupt nicht wahr, etwa wenn Kinder auf den Tischen statt auf den Stühlen saßen.

Die Kinder merkten das und nutzten es aus. Das war gar nicht böse gemeint. Sie testen halt, wie weit sie gehen können. Einmal ging ich in seinen Unterricht, um etwas aus dem Klassenraum zu holen, und es herrschte totales Chaos. Die Kinder waren aufgedreht und schlecht ansprechbar. In dieser Atmosphäre hatten sie keine Chance, sich auf irgendwas zu konzentrieren.

Ausgebrannte Kolleginnen

Das fiel auf meinen Unterricht zurück. Auch bei mir probierten sich die Kinder aus und hielten sich nicht mehr an Regeln, die wir aufgestellt hatten. Sie warfen sich Schimpfwörter an den Kopf und rannten durch die Klasse. Ich musste viel strenger sein und noch mal klarer sagen, was geht und was nicht. Das machte den Unterricht noch anstrengender für mich.

Es ist sicher nicht nur die Schule, die mich krank gemacht hat. Es kam damals vieles zusammen. Ich hatte jahrelang in Vollzeit gearbeitet und mich parallel in einem ehrenamtlichen Verein engagiert. Mir hatten Ruhepole und Momente gefehlt, die ich für mich hatte. Da hatte sich etwas aufgestaut. Außerdem verstarb meine Schwester vor ein paar Jahren überraschend, das hat mich sehr mitgenommen.

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Dennoch: Wenn ich meine Kolleginnen jetzt treffe, wirken sie alle entweder supergestresst oder den Tränen nahe. Vor einem halben Jahr hätte ich noch gesagt, ich gehe nie wieder in die Schule. Selbst wenn Grundschullehrer in Berlin gut bezahlt werden, kann das nicht die katastrophalen Bedingungen aufwiegen, unter denen wir guten Unterricht machen sollen.

Doch ich vermisse die Arbeit mit den Kindern sehr. Es macht mir großen Spaß, wenn ich ihnen Freude am Lernen vermitteln kann. Nach den Herbstferien will ich frühestens wieder einsteigen, erst mal mit einer Stunde pro Tag. Wenn ich nach einem halben Jahr merke, es geht doch nicht, muss ich mir eben einen anderen Job suchen."

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