Medizinstudium in Kolumbien Auf Umwegen zum Arztberuf

Tobias Appel hat in Kolumbien Medizin studiert und arbeitet jetzt als Arzt am Uniklinikum in Jena
Foto: Michael Szabo / Uniklinikum JenaHätte sich Tobias Appel an die Vorgaben der deutschen Bürokratie gehalten, würde er jetzt wohl nicht als Arzt in der Notaufnahme der Uniklinik in Jena arbeiten. Er hätte wahrscheinlich einen ganz anderen Beruf.
Mindestens sieben Semester, also dreieinhalb Jahre, müsse er auf einen Studienplatz in Medizin warten, hatte es in dem Brief der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) geheißen, den Tobias Appel 2009 nach seiner Bewerbung erhalten hatte. Dass er mit einem Abiturdurchschnitt von 2,1 nicht die besten Chancen haben würde, war ihm klar gewesen. Deshalb hatte er auch als Wunschunis die bei Medizinstudenten eher weniger gefragten Hochschulen angegeben. Aber mit einer so langen Wartezeit hatte er nicht gerechnet.
Verrückte Idee beim Abendessen
Appel war enttäuscht. Seinen Traumjob aufgeben wollte er trotzdem nicht. Er bewarb sich beim Roten Kreuz für ein Freiwilliges Soziales Jahr in Nicaragua, unterrichtete vormittags an einer Grundschule und half nachmittags in einem Gesundheitszentrum. Dort verteilte er Medikamente, durfte bald sogar impfen und Hausbesuche machen. Bis zu 50 Stunden pro Woche habe er gearbeitet, sagt Appel, aber er habe sich trotzdem großartig gefühlt: »Es war genau das, was ich machen wollte.«
Zurück in Deutschland bewarb er sich erneut auf einen Studienplatz in Medizin – und wurde wieder abgelehnt. »Ich hatte das Gefühl, in ein Loch zu fallen«, sagt er.
Dann bekam seine Mutter, eine Grundschullehrerin, das Angebot, an einer internationalen Schule in Bogotá zu arbeiten. »Und beim Abendessen kam mir dann plötzlich die verrückte Idee: Wieso bewerbe ich mich nicht dort für das Medizinstudium?«, erzählt Appel.
Auch in Kolumbien kassiert er zunächst Absagen
Als der SPIEGEL vor zweieinhalb Jahren über ihn berichtete, hatte er in Bogotá gerade das Medizinstudium abgeschlossen – als Jahrgangsbester.
Mitten in der Coronakrise hat er nun seinen Job als Assistenzarzt in der Onkologie in Jena angetreten, seit Januar ist er auch in der Notaufnahme im Einsatz. Kontakt zu Covid-19-Patienten lässt sich dort kaum vermeiden, die Arbeit ist anstrengend und stressig. Appel würde trotzdem nicht tauschen wollen.
»Ich bin sehr dankbar dafür, wie alles gelaufen ist«, sagt er. »Lange Zeit habe ich gedacht: Das wird nie funktionieren, ich werde nie als Arzt arbeiten können. Und jetzt bin ich hier.«
Der Weg nach Jena war steinig. Denn auch in Kolumbien hatte Appel zunächst nur Absagen kassiert. Tests und Aufnahmegespräche zählen dort bei der Vergabe der Medizinstudienplätze mehr als Schulnoten. Aber sein Spanisch sei einfach noch zu schlecht gewesen, sagt Appel. Drei Unis lehnten ihn ab. Und trotzdem gab er nicht auf.
Er schrieb sich für einen viermonatigen Vorbereitungskurs an der Universidad El Bosque in Bogotá ein, büffelte jeden Tag bis spät in die Nacht – und bekam als einer der zehn besten Absolventen doch noch den langersehnten Studienplatz.
Mehr als 4000 Euro Studiengebühren verlangte die Uni dafür pro Semester. Eine Summe, die Appel nur mit der Unterstützung seiner Eltern aufbringen konnte. »Ich verdanke ihnen viel«, sagt er. Unter dem Strich sei das Medizinstudium in Kolumbien aber kaum teurer gewesen als in Deutschland, weil die Lebenshaltungskosten in Bogotá so niedrig waren. Für sein WG-Zimmer im Uni-Viertel musste er nur 180 Euro Miete pro Monat zahlen.
Hassliebe zu Bogotá
Mit der Stadt verbinde ihn »eine Art Hassliebe«, hatte Appel dem SPIEGEL vor zweieinhalb Jahren gesagt. Es sei meistens kalt, regne viel und mit dem Auto stehe man zu jeder Tageszeit im Stau. Als Pluspunkte nannte er damals die vielen grünen Parks. Und nun, in Jena, vermisst er auch die große Auswahl an frischem Obst, die Kolumbien zu bieten hat. Und seine Freunde und Kollegen von der Uni.
Die Hochschule wurde nach seinem Studienabschluss sein Arbeitgeber. Appel forschte im Labor zur Resistenz von Antibiotika. Das Thema findet er noch immer spannend; er träumt von einer Karriere, die Forschung und Praxis verbindet.
Die Entscheidung, Kolumbien zu verlassen, habe vor allem einen finanziellen Grund gehabt, sagt er: Er habe wieder mit Patienten arbeiten und sich weiterbilden wollen – und eine Weiterbildung zum Facharzt ist in Kolumbien teuer. Angehende Fachärzte müssen dort Studiengebühren zahlen, anders als in Deutschland, wo Mediziner in der Facharztweiterbildung üblicherweise als Assistenzärzte arbeiten und schon im ersten Jahr monatlich bis zu 5000 Euro plus Zuschläge verdienen.
»Eigentlich wollte ich in die USA«, sagt Appel. »Doch dann dachte ich: Na ja, versuche ich doch erst mal, meinen Studienabschluss in Deutschland anerkennen zu lassen.«
Sein erstes Aha-Erlebnis: Jedes Bundesland hat dafür eigene Regeln.
Ich bin deutscher Muttersprachler – warum glaubt mir keiner?
Appel entschied sich für einen Antrag in seiner Heimat Bayern, dort habe man als ausländischer Arzt vergleichsweise gute Chancen, hatte er in Blogeinträgen gelesen. Er ließ sein Diplom und seine Zeugnisse übersetzen, als Nachweis für seine Deutschkenntnisse legte er sein bayerisches Abiturzeugnis bei, mit Leistungskurs Deutsch. Doch das habe den Sachbearbeitern nicht genügt, erzählt Appel: »Ich sollte nachweisen, dass ich zehn Jahre Deutschunterricht hatte, und für das Abiturzeugnis wollte man mir nur zwei Jahre anerkennen.«
Er kramte nach alten Schulzeugnissen, fand sie aber nicht – und wusste nicht mehr weiter. »Wie kann ich beweisen, dass ich Muttersprachler bin? Diese Frage konnte mir niemand beantworten.«
Wie absurd es ist, dass Appel mit Zeugnissen aus der Grundschule belegen sollte, deutscher Muttersprachler zu sein, wird nach einem Telefonat mit ihm noch deutlicher – denn er hat einen bayerischen Akzent. Schließlich hatte einer der Beamten doch noch Mitleid und akzeptierte eine schriftliche Erklärung. Appels Antrag wurde angenommen und für 900 Euro wurde er in München zur sogenannten Kenntnisprüfung zugelassen.
Alternativ hätte er auch einen deutschen Gutachter damit beauftragen können zu prüfen, ob sein kolumbianischer Studiengang einem deutschen Medizinstudium entspricht, »aber das war mir zu teuer und zu langwierig«, sagt Appel. Rund 250 Seiten Studienpläne hätte er übersetzen lassen müssen und 3000 Euro hätte allein das Gutachten gekostet. »Wenn der Gutachter zu dem Schluss kommt, das Studium sei nicht gleichwertig, muss man am Ende doch die Prüfung machen. Da hab' ich mich gleich dafür entschieden.«
Mit der Kenntnisprüfung wird getestet, ob Ärzte, die im Ausland studiert haben, über das gleiche Wissen verfügen wie Absolventen deutscher Hochschulen. Die Prüflinge müssen einen Patienten untersuchen und mündlich Fragen beantworten. Die Prüfung dauert zwischen 60 und 90 Minuten und darf maximal zweimal wiederholt werden.
Tobias Appel schaffte den Test diesmal auf Anhieb.
Zurück in Kolumbien vermittelte eine Kollegin seiner Uni den Kontakt nach Jena. Und ein Skype-Gespräch später hatte Appel eine Jobzusage.
Um seinen Studienabschluss auch in den USA anerkennen zu lassen, hätte er noch mal drei Prüfungen machen müssen. »Da war dann die Luft raus.« Also lieber nach Jena.
Appel war vor seinem Umzug noch nie dort gewesen. Wegen des Lockdowns hat er auch bisher noch nicht viel in der Stadt unternehmen können, aber sie erscheine ihm weltoffen, sagt er, und von den Kollegen sei er herzlich aufgenommen worden. Es seien nun vor allem »die kleinen Sachen«, an die er sich im Alltag gewöhnen müsse: andere Abläufe, andere Medikamente, andere Laboreinheiten.
Schon 2018 hatte er im Interview mit dem SPIEGEL allen Möchtegern-Medizinstudenten, die wie er am Numerus clausus gescheitert sind, einen Tipp geben wollen: »Die Abi-Note sagt nichts über die Eignung als Arzt. Behaltet euer Ziel vor Augen und gebt nicht auf. Vielleicht wird euer Weg steinig und unkonventionell verlaufen, aber es gibt immer eine Möglichkeit, es doch zu schaffen.«
Als »NC-Flüchtling« schräg angeschaut zu werden, dieses Gefühl habe er keineswegs. »In Deutschland jammern alle über Ärztemangel, aber niemand steuert aktiv dagegen«, sagt er. »Viele deutsche Ärzte wandern ins Ausland ab. Wenn dann mal jemand den umgekehrten Weg geht, ist das doch wunderbar.«