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Von Rechts wegen Mindestlohn im Schlaf verdient

Gehört Bereitschaftsdienst zur Arbeitszeit dazu? Ein Gericht entschied jetzt: ja. Damit bekommt eine Altenpflegerin 1000 Euro mehr Gehalt. Der Gesetzgeber muss einschreiten, fordert Arbeitsrechtler Jobst-Hubertus Bauer, sonst wird Pflege unbezahlbar.
Pflege einer Demenzkranken: Bereitschaft immer in der Nähe der Patienten

Pflege einer Demenzkranken: Bereitschaft immer in der Nähe der Patienten

Foto: Thomas Kienzle/ ASSOCIATED PRESS

Die politische Debatte um Mindestlöhne ist nicht folgenlos geblieben: In einzelnen Branchen gibt es seit einigen Jahren staatlich festgesetzte Mindestlöhne, darunter ist auch die Pflegebranche. In der Detailgestaltung bringen sie allerdings Probleme mit sich. Dies zeigt ein aktuelles Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 28.11.2012 (Aktenzeichen: 4 Sa 48/12 ).

Worum ging es? Geklagt hatte eine Pflegehelferin, die von einem privaten Pflegedienst in sogenannten Rudu-Diensten ("Rund um die Uhr") zur Betreuung von zwei dementen Nonnen in einem katholischen Pflegeheim eingesetzt wurde. Vereinbart war ein Bruttomonatslohn von 1885,85 Euro. Die Einsätze erstreckten sich jeweils über zwei Wochen, danach hatte die Klägerin jeweils knapp zwei Wochen frei. Während der Dienste wohnte und schlief die Klägerin in dem Pflegeheim. Sie fand, die gesamte Zeit der Rudu-Dienste sei als Arbeitszeit zu werten, die mit dem Mindestlohn von damals 8,50 Euro zu vergüten sei. Pro vierzehntätiger Rudu-Schicht wäre demnach eine Vergütung von 24 x 14 x 8,50 Euro zu zahlen, also unterm Strich 2856 Euro.

Der Arbeitgeber hielt dagegen, es habe erhebliche Zeiten ohne Arbeitsanfall gegeben. Schon rein physisch sei es nicht möglich, zwei Wochen am Stück durchzuarbeiten, weil die Klägerin zum Beispiel auch schlafen und essen muss. Das Landesarbeitsgericht gab aber der Klägerin überwiegend recht.

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Wie kommen die Richter zu diesem Ergebnis? Dazu muss man wissen, wie der Mindestlohn in der Pflegebranche festgelegt wird. Eine Kommission, in der Vertreter von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sowie von kirchlichen und nichtkirchlichen Pflegeeinrichtungen vertreten sind, macht Empfehlungen, die dann im Wege einer Rechtsverordnung Gesetzeskraft erlangen können. Nach einer solchen Empfehlung kam auch der aktuelle Mindestlohn zustande, 8,75 Euro pro Stunde. Eine in der Praxis wichtige - und für den Fall des LAG Baden-Württemberg entscheidende - Frage ist dabei aber nicht ausdrücklich geregelt: Wie ist Bereitschaftsdienst zu vergüten?

Bereitschaftsdienst bedeutet, dass der Arbeitnehmer sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten muss, um bei Bedarf die Arbeit schnell aufnehmen zu können. Im Gegensatz dazu steht die Rufbereitschaft, bei der der Arbeitnehmer sich an einem frei gewählten Ort aufhalten kann, aber auf Anforderung alsbald zur Arbeit erscheinen muss. Veranlasst durch mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gilt Bereitschaftsdienst seit 2004 - anders als Rufbereitschaft - als Arbeitszeit im Sinne der Vorschriften über die zulässige Höchstarbeitszeit.

Damit ist nicht gesagt, dass Bereitschaftsdienst und normale Vollarbeit gleich bezahlt werden müssen. Die meisten Tarifverträge sehen vor, dass Zeiten des Bereitschaftsdienstes geringer bezahlt werden. Das leuchtet ein, denn während des Bereitschaftsdienstes kann man sich, solange kein konkreter Einsatz ansteht, ausruhen oder anderen Tätigkeiten nachgehen.

Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg sah praktisch die gesamte Arbeitszeit der klagenden Pflegehelferin entweder als Vollarbeit (wenn sie tatsächlich im Einsatz war) oder als Bereitschaftsdienst an. Das Gericht verwies darauf, dass die Klägerin während der "Rudu"-Dienste im Pflegeheim wohnte und auch nachts kurzfristig tätig werden musste, wenn die Nonnen Hilfe brauchten. Lediglich zwei Stunden pro Tag, an denen die Nonnen zu Mittag aßen und die Messe besuchten, wertete das Gericht als Pausenzeit. Die entscheidende Frage war, ob auch der Bereitschaftsdienst mit dem Mindestlohn zu vergüten war. Da die Verordnung zum Pflegemindestlohn nicht zwischen normaler Arbeitszeit und Bereitschaftsdienst differenziert, nahmen die Richter an, dass die Mindestvergütung auch für den Bereitschaftsdienst gilt.

Pflege könnte teuer werden

Das LAG hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen. Wenn dort die Entscheidung aufrechterhalten wird - und dafür spricht Einiges - müssen sich die Arbeitgeber im Pflegebereich auf eine erhebliche Kostensteigerung gefasst machen. Dies gilt jedenfalls für Dienstleistungen wie einen Rund-um-die-Uhr-Pflegedienst.

Ein Ausweg könnte darin bestehen, die Arbeitsgestaltung so zu ändern, dass Zeiten ohne konkreten Arbeitseinsatz lediglich als - nicht dem Mindestlohn unterliegende - Rufbereitschaft zu qualifizieren sind. Dies setzt aber voraus, dass der Arbeitnehmer frei ist, seinen Aufenthalt zu wählen, und von ihm auch nicht verlangt werden kann, dass er innerhalb weniger Minuten am Einsatzort ist. Ob dies den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen entspricht, ist zweifelhaft. Wenn die Pflege nicht weiter verteuert werden soll, ist also eine politische Lösung gefragt: In der Mindestlohnverordnung muss zwischen Vollarbeit und Bereitschaftsdienst differenziert werden.

Unabhängig von den konkreten Problemen der Pflegebranche demonstriert der Fall, dass die Festsetzung der Arbeitsbedingungen am besten bei den Tarifvertragsparteien und den Arbeitsvertragsparteien aufgehoben ist, also denjenigen, die unmittelbar davon betroffen sind. Irgendwelche Kommissionen, auch wenn sie paritätisch mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzt sind, werden niemals so "nah dran" an den Verhältnissen in den Unternehmen sein, dass sie wirklich praxistaugliche Regelungen entwickeln können. Der Politik sollte der Fall eine Mahnung zu größter Zurückhaltung bei Eingriffen in die Tarifautonomie sein.

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