Mythen der Arbeit In Deutschland wird zu viel studiert - stimmt's?

Kein Grund zur Panik: Akademiker im Anmarsch
Foto: Corbis"Braucht man dafür wirklich einen Uniabschluss?" Immer wieder wird behauptet, Deutschland drohe eine Überakademisierung. Mit anderen Worten: Zu viele junge Menschen würden ein Studium beginnen, und es wäre besser, ein Teil von ihnen würde stattdessen eine betriebliche Berufsausbildung absolvieren. Die Klage ist alt, schon vor Jahrzehnten war zu hören: "Wir brauchen nicht nur Häuptlinge, sondern auch Indianer."
Die Fronten in der Debatte sind unübersichtlich, Warner vor der Überakademisierung finden sich praktisch quer durch alle Lager. Während ein westfälischer IHK-Präsident vor zu viel akademischem Eifer warnt , widerspricht Südwestmetall, der Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg.
Was also ist dran an den Warnungen?
Die Arbeitslosenquote der Akademiker ist mit rund 2,5 Prozent weit geringer als die der Personen mit einer Berufsausbildung (ca. fünf Prozent) oder gar die der Ungelernten (rund 20 Prozent). Ein Akademiker mittleren Alters verdient heute im Mittel gut das 2,5-Fache eines Ungelernten. Der Verdienstabstand zu den Geringqualifizierten ist in den letzten 25 Jahren deutlich gewachsen - und das, obwohl die Zahl der Hochschulabsolventen deutlich gestiegen ist.
Universitätsabsolventen sind also sowohl bei der Beschäftigung als auch bei den Verdiensten auf der Gewinnerseite. Das Gleiche gilt auch für Fachhochschulabsolventen. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Im Vergleich zu den Geringqualifizierten hat sich die Nachfrage nach Hochqualifizierten im Zeitablauf drastisch erhöht. Bisher ist auch kein Ende des Trends zur Höherqualifizierung beim Arbeitskräftebedarf abzusehen. Auf dem Weg zu einer Wissensgesellschaft könnte er sich sogar noch verstärken. Dies alles spricht dafür, die akademische Bildung weiter zu fördern und auszubauen.
Die Sache mit den brotlosen Fächern
Aber gibt es nicht zu viele brotlose Studiengänge, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften? Tatsächlich sind Absolventen in diesen Fächern im Durchschnitt länger auf der Suche nach einem Job als beispielsweise Absolventen eines Elektrotechnik- oder Maschinenbau-Studiums. Bemerkenswert ist jedoch: Auf mittlere Sicht finden auch die Geistes- und Sozialwissenschaftler ihren Weg in den Arbeitsmarkt. Sie verdienen zwar oft weniger als andere Hochschulabsolventen, sind aber nicht unbedingt unzufriedener mit ihren Jobs.
Wenn immer mehr talentierte Jugendliche heute statt einer Berufsausbildung ein Studium aufnehmen, kann dann der Bedarf der Wirtschaft nach gut ausgebildeten Facharbeiterinnen und Facharbeitern noch gedeckt werden? Ist das nicht gerade in einer exportorientierten Wirtschaft, in der Industriegüter wie Maschinen und hochwertige Automobile immer noch eine tragende Rolle spielen, besonders kritisch?
Vorausschätzungen deuten auf die Gefahr hin, dass es in der Zukunft nicht nur bei Hochschulabsolventen verstärkt zu Fachkräfteengpässen kommt, sondern auch bei mittleren Qualifikationen. Auch für diese Gruppe sind die Marktsignale klar: Die Beschäftigungs- und Verdienstentwicklung stellt sich im Schnitt weitaus positiver dar als bei den Geringqualifizierten.
Das kostet alles Kraft und Geld
Was folgt daraus? Grundsätzlich falsch wäre es, Hochschulstudium und Berufsausbildung gegeneinander auszuspielen. Es muss darum gehen, insgesamt das Bildungspotential besser auszuschöpfen. Ein Ansatzpunkt ist es, die mit 1,5 Millionen viel zu hohe Zahl der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne weitere Qualifikation zu verringern. Viele von ihnen verfügen noch nicht einmal über eine abgeschlossene Schulausbildung.
Hier ist auch bildungspolitische Phantasie gefragt, etwa durch praxisnahe Ausbildungsangebote Personen einzubinden, die im Bildungssystem bisher gescheitert sind. Da auch bei manchen Gruppen von Migranten große Ausbildungsdefizite bestehen, können zudem zielgerichtete Integrationsbemühungen Wirkung entfalten. Dies alles kostet Kraft und Geld. Es führt aber kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Um für die Anforderungen der Zukunft gut gerüstet zu sein, müssen wir mehr in Bildung investieren.
Auf Deutschland bezogen ist weder eine Unter- noch eine Überakademisierung derzeit ein reales Problem. Die Probleme liegen eher in der sozialen Mobilität ("Wer schafft es, einen Hochschulabschluss zu erwerben?") und in der Ausschöpfung der Bildungsreserven am unteren Bereich der Qualifikationshierarchie ("Wie können wir Schul- und Ausbildungsabbrechern zu einem Abschluss verhelfen?").
Etwas anders gelagert ist die Situation in dem einen oder anderen südeuropäischen Land , in dem die Jugendarbeitslosigkeit derzeit besonders hoch ist. Zwar gibt es auch dort zu viele Ungelernte, tatsächlich stellt sich da aber zusätzlich die Frage, ob Teile des Hochschulsystems nicht eher am Markt vorbei qualifizieren.
Frust im falschen Job
Der Aufbau eines mit unserer betrieblichen Berufsausbildung vergleichbaren Berufsbildungssystems könnte in Ländern wie Spanien oder Griechenland durchaus zur Minderung des Problems der Jugendarbeitslosigkeit beitragen. Ein solches System zu etablieren, ist aber keineswegs eine einfache Aufgabe, die man von heute auf morgen bewältigen könnte. Bislang fehlt es weitgehend an den dafür erforderlichen Strukturen - beispielsweise mit den Industrie- und Handelskammern oder Handwerkskammern vergleichbare Organisationen der Wirtschaft, die die Prüfungen abnehmen können.
Auch die Bereitschaft der Unternehmen, entsprechende Aufwendungen für die Ausbildung zu tragen, ist bisher eher gering ausgeprägt. Hinzu kommt: Bei jungen Menschen stehen in diesen Ländern Ausbildungen für eine gewerblich-technische Tätigkeit bislang nicht unbedingt hoch im Kurs, es mangelt hier auch an gesellschaftlicher Wertschätzung.
Ein Hochschulstudium zählt da in den Augen vieler deutlich mehr. Die an den Hochschulen erworbenen Qualifikationen sind aber nicht unbedingt die, die auch von den Betrieben nachgefragt werden. Vielen Absolventen droht - sofern sie überhaupt einen Job finden - eine unterwertige Beschäftigung. Auch das führt zur Frustration.
Eine einfache und schnelle Lösung für das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern wird es also leider nicht geben. Jeder Schritt hin zu einem ähnlichen System wie dem unserer betrieblichen Ausbildung weist aber aus meiner Sicht in die richtige Richtung. In einigen Ländern wurde tatsächlich zu einseitig auf den Ausbau akademischer Bildung gesetzt. Deutschland ist einen Mittelweg gegangen. Bisher hat er sich als richtig erwiesen.