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Unternehmen in Düsseldorf Wo Überstunden ein No-Go sind

Keine Chefs, keine Meetings und alle zwei Wochen ein freier Tag für eigene Projekte: Das Unternehmen Sipgate ist der Traum vieler Arbeitnehmer. Kann das funktionieren? Ein Hausbesuch.
Das Unternehmen Sipgate, wie es sich selbst präsentieren will: hell, freundlich und immer motiviert.

Das Unternehmen Sipgate, wie es sich selbst präsentieren will: hell, freundlich und immer motiviert.

Foto: Oliver Tjaden

Wenn Mathias Wegener abends mit Freunden beim Bier zusammensitzt, dann darf er nicht über seine Arbeit sprechen. Zu gut wären die Geschichten, die er zu erzählen hat. Von seinem Chef, über den er sich nie ärgert, weil es ihn nicht gibt. Von den Überstunden, die er nicht macht. Von dem hauseigenen Restaurant, in dem es täglich frisch zubereitetes Bioessen gibt, kostenlos. "Meine Freunde haben mir Redeverbot erteilt", sagt der 32-Jährige.

Wegener - Pferdeschwanz, T-Shirt, gepflegter Bart - arbeitet als Entwickler bei Sipgate. Firmensitz ist Düsseldorf. Wegener sitzt im Büro des Teams "Satellite", der Blick geht durch große Fenster hinaus auf den begrünten Innenhof. Auf den ersten Blick ein ganz normaler Arbeitsplatz: ergonomischer Drehstuhl, Schreibtisch aus Buchenholz, am Computer kleben ein paar Post-Its in Gelb und Neonpink.

Gelegen auf einem Hinterhof in einer ehemaligen Druckerei, beschäftigen sich hier knapp 180 Mitarbeiter mit dem Thema Internettelefonie. Im Portfolio hat Sipgate Handyverträge und Konferenztelefonanlagen für Unternehmen - Produkte, die nicht unbedingt auf sprudelnde Kreativität schließen lassen.

Konferenzen bei Sipgate: Wie viel Verantwortung kann ein Mitarbeiter tragen?

Konferenzen bei Sipgate: Wie viel Verantwortung kann ein Mitarbeiter tragen?

Foto: Lisa Duhm

Sipgate könnte ein ziemlich langweiliger Arbeitgeber sein. Doch die Arbeitsweise des Unternehmens hat es in sich.

Seit knapp zehn Jahren setzt Sipgate auf das Konzept der agilen Arbeit, und das radikal: Es gibt keine Chefs, alle Entscheidungen treffen die Teams gemeinsam. Auch neue Kollegen stellen die Mitarbeiter selbst ein. Abteilungen sucht man vergebens, stattdessen arbeiten Beschäftigte in funktionalen Einheiten zusammen. Alle paar Monate wechseln sie ihren Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens.

Das Ziel: bloß keine Gewohnheiten aufkommen lassen. Man will flexibel bleiben, um auf unerwartete Veränderungen reagieren zu können. Denn Sipgate muss sich auf dem Markt mit Konkurrenten wie Vodafone messen. Das "agile Arbeiten" ist hier keine Wohlfahrt, sondern Mittel zum Zweck - alles ist auf maximale Effizienz getrimmt.

Macht es die Mitarbeiter trotzdem glücklich?

Im Halbkreis steht Wegener mit seinen Kollegen vor einer Tafel in seinem Büro, das hier Teamraum heißt. Das Board verschwindet fast unter einer Flut von bunten Zetteln. "In drei Wochen launchen wir", eröffnet Kollege Michael Neudert das "Stand-Up". Jeden Morgen um 10 Uhr trifft sich das "Satellite"-Team zu der Kurzkonferenz, bei der es vor allem eine Regel gibt: Niemand darf sitzen. Dahinter steht die Annahme: Wer steht, ist aufmerksamer, sagt weniger Unnötiges und kommt eher auf den Punkt.

Überstunden? Sind verboten

In wenigen Wochen will das Team eine neue App auf den Markt bringen, mit der Kunden deutlich günstiger ins Ausland telefonieren können. Alles stressig also, jetzt in der Endphase der Produktentwicklung? "Wir konnten uns den Launchtermin ja selbst aussuchen", sagt Wegener. So war das Team gefordert, seinen Zeitplan realistisch einzuschätzen. Gestresst sei hier deshalb niemand, so Wegener. Verfehlt das Team den selbst gesetzten Termin allerdings, wäre es dafür auch selbst verantwortlich.

Und Überstunden, wenn es doch mal eng wird? Sind verboten.

Die Stempeluhr: Eintragen, austragen, keine Überstunden machen

Die Stempeluhr: Eintragen, austragen, keine Überstunden machen

Foto: Lisa Duhm

In der Eingangshalle, neben einer honigfarbenen Ledersofagarnitur, hängt die Stempeluhr. Ein handgezeichnetes Plakat verkündet: "Genau 40-Stunden-Woche". Jeden Morgen melden sich hier alle Mitarbeiter an - und zum Feierabend wieder ab.

Wer trotzdem Überstunden ansammelt, wird zum Gespräch gebeten. "Da wird man dann gefragt: Was machst du in deiner Arbeit eigentlich falsch, dass du dafür länger als 40 Stunden pro Woche brauchst?", erklärt Wegener. "Und was können wir tun, damit sich das ändert?"

"Stand-Up" bei Team "Satellite"

"Stand-Up" bei Team "Satellite"

Foto: Lisa Duhm

Hierarchie? Überflüssig

Das Konzept, nach dem Sipgate arbeitet, fußt auf einer Grundmaxime: Egal ob Launchtermin oder Arbeitszeit, Verantwortung trägt hier jeder - für seine Arbeit und für die seiner Kollegen. So werden Hierarchien überflüssig, weil man niemanden mehr braucht, der alle Entscheidungen allein fällt. Es bedeutet aber auch: Der Druck, der sonst auf Führungskräften lastet, wird auf alle Mitarbeiter verteilt.

Für Wegener und seine Kollegen überwiegen trotzdem die Vorteile. "Ich könnte mir nichts anderes mehr vorstellen, als hier zu arbeiten", sagt Wegener. Die Kollegen nicken dazu. "Für den normalen Arbeitsmarkt bin ich verdorben", ergänzt Kollege Neudert.

Im Teamraum von "Satellite" überlegt Wegener mit seinen Kollegen, wen er als seinen Chef bezeichnen würde. Marcel, der im Team die Prozesse während der Entwicklung koordiniert, nennen sie manchmal aus Spaß so. "Das machen wir aber nur, um ihn zu ärgern", sagt Neudert. Am ehesten, entscheiden sie schließlich, sei wohl der Tim ihr Chef.

"Wir haben nur noch Feuer gelöscht"

Tim Mois, 44 Jahre alt, empfängt an der Kaffeebar seines Unternehmens. Ein eigenes Büro hat der Geschäftsführer von Sipgate nicht. Selbst seinen Schreibtisch in der Eingangshalle der ehemaligen Druckerei teilt er sich mit einem Kollegen. Oder, wie Mois sagen würde, einem "Peer". Wenn Mois spricht, mischen sich englische Worte selbstverständlich in den Redefluss, bei ihm sind Herausforderungen "Challenges", Mitarbeiter haben keinen Einfluss, sondern "Impact", und wenn er erklärt, warum sie keine Überstunden machen sollen, spricht er von "Work-Life-Balance". Mois' Brille rutscht ein bisschen, zwischendurch schiebt er das durchsichtige Gestell mit dem Zeigefinger zurück in die richtige Position.

Geschäftsführer Tim Mois

Geschäftsführer Tim Mois

Foto: Oliver Tjaden

2004 gründete Mois Sipgate mit seinem Studienkollegen Thilo Salmon, ohne je von agiler Arbeit gehört zu haben. Sechs Jahre später entschieden die beiden Geschäftsführer, dass es so nicht weitergehen könne. "Wir haben nur noch Feuer gelöscht", sagt Mois heute. Er wollte nicht mehr Chef sein - und sagte sich vehement von allen Führungsaufgaben los.

"Bitte löst das selbst"

"Wenn Mitarbeiter heute mit einem Problem zu mir kommen, sage ich ihnen: Bitte löst das selbst", sagt Mois. Unterstützen könne er natürlich trotzdem. Urlaubsanträge unterzeichnen? Personalkonflikte lösen? Fehlanzeige bei dem Geschäftsführer. Er selbst konzentriere sich auf wenige Projekte, für die er ausreichend Zeit habe. "Ich schätze, dass ich etwas weniger als 40 Stunden pro Woche arbeite. Und das reicht völlig."

Mittlerweile meldeten sich fast ausschließlich Bewerber bei dem Unternehmen, die sich aktiv für die agile Arbeit entschieden hätten, berichtet Mois. "Wir wollen nur die Besten einstellen. Dabei hilft das ungemein." Und trotzdem: Es passt nicht für jeden.

Bei zwei Kollegen hat Mathias Wegener bereits eine Kündigung miterlebt - weil sie mit der Arbeitsweise nicht zurechtkamen. "Mir sagt niemand, welche Aufgabe ich zuerst erledigen soll", sagt Wegener. "Das ständige Priorisieren kann schon anstrengend sein, das ist nicht für jeden etwas."

Gleichzeitig seien die Kündigungen die einzigen Momente gewesen, in denen er sich einen Chef gewünscht habe, sagt Wegener. Denn genauso, wie ein Team einen Mitarbeiter einstellt, muss es ihm auch selbstständig kündigen. Verantwortung in Reinform, manchmal wird das selbst den Mitarbeitern von Sipgate zu viel: "Du hast hier keinen Chef, der die Rolle des Arschlochs übernimmt", sagt Wegener.

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