
Außergewöhnliche Karriere: Ein Flüchtlingskind wird Juristin
Von der Asylbewerberin zur Anwältin "Frau Bislimi, ich übertrage Ihnen mein Leben"
"Heirate, Mädel! Sonst hast du keine Chance." Das war der Rat, den ein Berufsberater Nizaqete Bislimi in der zwölften Klasse mit auf den Weg gab. Dabei wollte sie eine Ausbildung machen und später Jura studieren. In diesem Moment brach sie weinend zusammen.
Wenige Jahre zuvor war sie mit ihrer Familie aus dem Kosovo geflüchtet; ihre neue Heimat, Deutschland, "duldete" sie nur. Gegen alle Widerstände und Ratschläge folgte Bislimi ihrem Traum. Heute, 22 Jahre später, ist sie Rechtsanwältin für Ausländer- und Asylrecht in einer Essener Kanzlei, zudem Vorsitzende des Roma-Verbandes. Und vertritt Mandanten, die oft eine ganz ähnliche Geschichte haben wie sie selbst.
Es beginnt 1993: Im Kosovo stehen alle Zeichen auf Krieg. Die Romni Nizaqete ist 14, als ihre Familie die Heimat zurücklässt und auf ein sicheres Leben in Deutschland hofft. Mit einem alten Reisebus fährt sie mehrere Tage auf unbekannter Route Richtung Grenze. Später stolpert die kleine Niza, wie Freunde und Familie sie nennen, zu Fuß durch die Nacht über Felder, durch Wälder ihrer Zukunft entgegen. Die nächsten Jahre lebt die Familie zwar fernab des Krieges, kämpft jedoch mit einer anderen ständigen Angst: vor der drohenden Abschiebung.
13 lange Jahre der Ungewissheit
Zunächst werden die fünf Geschwister und ihre Mutter (der Vater sollte Jahre später nachkommen) in einer Kabine eines Schiffes in Düsseldorf einquartiert. Später geht es weiter in ein Oberhausener Flüchtlingsheim, wo die Familie zwischen Kakerlaken und Schimmel wohnt. Der Asylantrag wird mehrfach abgelehnt, stattdessen flattert ein grüner Ausweis in die Baracke: "Aufschiebung der Abschiebung - Duldung". Darunter die Zeilen: "Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig." Diesen Status behält die Familie bis Ende 2006.
Heute ist Nizaqete Bislimi 36 Jahre alt und Anwältin in Essen. Hinter ihr liegt ein langer Arbeitstag, doch ihre großen Augen sind hellwach. "Wie oft bin ich mit der Angst eingeschlafen, dass sie uns heute Nacht holen kommen, um uns abzuschieben", erinnert sie sich. Neben einem Aktenstapel in der Kanzlei liegt die aktuelle "Ausländerrecht"-Auflage - ein dickes Buch, erst wenige Monate alt, gezeichnet von Zetteln und Gebrauchspuren. "Das Ausländerrecht ist so komplex und ändert sich ständig. Genauso das Asylrecht", sagt Bislimi.
Inzwischen weiß sie ganz genau, wovon sie spricht. Kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland erklärte ihr das der Rechtsanwalt Eberhard Haberkern. Heute sind sie Kollegen, arbeiten zusammen in seiner Kanzlei. Viele Male war Niza als Jugendliche mit ihrer Mutter dort. Ein deutsches Ehepaar, das die Bislimis bei einem Begrüßungsfest der evangelischen Kirchengemeinde in Oberhausen kennenlernte, hatte Haberkern der Familie empfohlen. Der Anwalt mit Schwerpunkt Ausländerrecht vertrat die Familie, erklärte die Behördenbriefe.
Jurastudium? So fern wie der Mond
Niza büffelte täglich die neue Sprache, doch das Amtsdeutsch verstand sie nicht. Noch weniger die juristische Fachsprache. "Eines Tages", sagte sie zu ihrer Mutter, "werde ich das alles verstehen. Das verspreche ich dir." "Dazu muss man Jura studieren", meinte Haberkern. Der Gedanke gefiel ihr. Nur erschien ihr damals die Möglichkeit eines Studiums "so weit entfernt wie der Mond".
Nur "geduldet" war sie, das latente Unheil der Abschiebung schwebte über allem. Die junge Niza lernte dagegen an. "Das Leben ist gut dort. Wer hart arbeitet, hat in Deutschland eine Zukunft", hatte ihre Tante, die in Nordrhein-Westfalen lebte, noch vor der Flucht gesagt. Doch in der Realität mussten die Bislimis um Beschäftigungserlaubnisse kämpfen.
Nach fünf Jahren in Deutschland machte Nizaqete Bislimi ihr Abitur - als eine der drei Jahrgangsbesten. Nächster Schritt: Jura. "Ein Studium? Kommt überhaupt nicht infrage", sagte eine Sachbearbeiterin des Ausländeramts. Bislimi ließ nicht locker. Sie probierte es direkt beim Akademischen Auslandsamt der Uni Bochum. Mit Erfolg: Mit ihrem deutschen Abitur konnte sie sich einschreiben.
Als Studentin erhielt Bislimi keine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mehr, aber auch kein Bafög. Sie jobbte in einer Trinkhalle, einem Eiscafé und begann ein Praktikum in der Kanzlei Haberkern: "Meine Situation war so unglaublich grotesk. Ich arbeitete bei einem Anwalt und hatte noch keine Aufenthaltserlaubnis. Ich studierte das Rechtssystem des Landes, das mich schon seit Jahren ablehnte." Sie erzählt ruhig, ohne Spuren von Bitterkeit oder Wut.
Nach zahlreichen Verhandlungen empfahl das Verwaltungsgericht dem Ausländeramt, Familie Bislimi den Aufenthalt zu gewähren. Am 27. Dezember 2006 hielt Bislimi - Referendarin im Staatsdienst - ihren unbefristeten Aufenthaltstitel in den Händen und wusste endlich: Sie darf bleiben.
"Ich kann nicht einfach abschalten"
Wenn sie heute Bilder sieht, wie Flüchtlinge - Bislimi nennt sie lieber Geflüchtete oder Schutzsuchende - in Ungarn verhaftet werden, ist sie fassungslos: "Menschen, die Schutz suchen und teilweise schreckliche Reisen hinter sich haben, zu inhaftieren - das widerspricht sämtlichen Menschenrechten", sagt sie, jetzt deutlich lauter.
Ebenso scharf kritisiert sie das Verhalten der Politik: "Das ist doch keine Haltung. Zuerst behauptet die Bundeskanzlerin, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenze, dann werden die Grenzen dicht gemacht." Bislimi schüttelt den Kopf, schweigt kurz, ballt dann die Faust. "Wir brauchen eine klare Haltung, keinen Zickzackkurs." Einfach die Situation vor die Haustüre zu verlagern, sei alles andere als eine Lösung. "Warum schafft es Deutschland in der Frage nicht, mehr Druck auf andere EU-Länder auszuüben?"
Doch nicht nur, wenn sie den Fernseher einschaltet, wird sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Für Mandanten kämpft die Anwältin um schnelle Entscheidungen im Asylverfahren, um eine Beschäftigungs- oder Aufenthaltserlaubnis. Dann sagen Menschen ihr: "Frau Bislimi, ich übertrage Ihnen mein Leben." Diese Verantwortung kann, will sie nicht tragen. Und nimmt doch viele Fälle mit nach Hause: "Ich kann nicht einfach abschalten, sobald ich die Bürotür hinter mir schließe. Das alles sind Menschen mit Schicksalen und Geschichten."
Ihre eigene hat sie im Buch "Durch die Wand" aufgeschrieben, das am 24. September erscheint. In TV-Talkshows ist Nizaqete Bislimi eine gefragte Gesprächspartnerin, auch als Vorsitzende des Bundes Roma Verbands oft unterwegs. Sobald sie sich die Robe überstreift und in den Gerichtssaal tritt, weiß sie, dass der lange Kampf sich gelohnt hat. "Dann spüre ich: Das ist mein Beruf. Ich will nichts anderes machen. Niemals!"

KarriereSPIEGEL-Autor Simon Michaelis (Jahrgang 1980) ist freier Journalist und lebt in Essen. Für seine Geschichten pendelt er vor allem zwischen den Regionen Rhein-Ruhr, Rhein-Main und Rhein-Neckar.