Persönlichkeitsentwicklung Das Leben ist eine Baustelle

"Ich will so bleiben, wie ich bin": Darf man. Muss man aber nicht.
Foto: CorbisSPIEGEL: Frau Professor Staudinger, angenommen, jemand möchte ordentlicher werden oder weniger launisch oder extrovertierter - hat er eine Chance? Können sich Erwachsene noch verändern?
Staudinger: Bis vor kurzem herrschte in der Persönlichkeitspsychologie die Auffassung, dass mit etwa 30 Jahren der Charakter ausgebildet ist und dann auch so bleibt. In den vergangenen Jahren haben aber Längsschnittstudien gezeigt, dass sich die Persönlichkeit während des gesamten Lebens verändern kann. Auch hat man neue Tests entwickelt, mit denen sich die Veränderung besser messen lässt. Jetzt merkt man, dass sich auch bei Älteren noch sehr viel tut. Das Veränderungspotential unserer Psyche ist sowohl kognitiv wie auch emotional immens. Das ist eine große Stärke des Menschen und begründet vielleicht seine hohe Überlebensfähigkeit auf dem Planeten Erde.
SPIEGEL: Wie verändert sich die Persönlichkeit denn mit der Zeit?
Staudinger: Die Standardmessungen beziehen sich auf fünf Charakterzüge, die sogenannten Big Five: Umgänglichkeit, Zuverlässigkeit, emotionale Stabilität, Extraversion und Offenheit für Erfahrungen. Man hat auf der ganzen Welt, quer durch die Kulturen, im Laufe des Lebens ähnliche Veränderungen festgestellt: Über die Lebensspanne hinweg nehmen Zuverlässigkeit, Umgänglichkeit und emotionale Stabilität zu. Dafür muss man gar nichts Außergewöhnliches tun, außer in einem menschlichen Gemeinwesen zu leben und die Dinge zu erledigen, die dort über die Jahre auf eine Person zukommen.
SPIEGEL: Handelt es sich um einen biologischen Effekt?
Staudinger: Nein, das wäre ein falscher Schluss. Nur etwa die Hälfte der Persönlichkeitsunterschiede ist auf genetische Unterschiede zurückzuführen. Die andere Hälfte kommt durch Unterschiede in den Entwicklungsumwelten im Verlauf des Lebens zustande. Wenn sich mit der Zeit scheinbar wie von selbst etwas verändert, hat das mit den Aufgaben zu tun, die wir zu bewältigen haben: Mit dem Eintritt ins Berufsleben etwa wird erwartet, dass wir verlässlich sind, jeden Morgen erscheinen, die Dinge auch tun, die wir versprechen. Dadurch wird man automatisch zuverlässiger. Das ist eine Art anthropologische Grundkonstante: Entwicklungen, die immer stattfinden, wenn Menschen in einer Gruppe zusammenleben und sich Regeln des Zusammenlebens geben. Genauso übrigens wie der eher nachteilige Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung - die Offenheit für neue Erfahrungen nimmt ab dem frühen mittleren Erwachsenenalter ab, ab etwa 40 Jahren.
SPIEGEL: Das ist unabwendbar?
Staudinger: Das dachte man lange. Man ging davon aus, der Mensch habe irgendwann genug gesehen und erlebt und richte sich ein in dem, was er schon kennt. Aber wir konnten in einer quasi experimentellen Studie zeigen, dass sich die Offenheit auch bei Erwachsenen wieder steigern lässt.

SPIEGEL WISSEN: Gut, besser, ich
SPIEGEL: Bei jedem?
Staudinger: Nicht bei jedem gleich gut. Menschen, die sich Veränderungen selbst zuschreiben, tun sich leichter damit. Sie brauchen außerdem eine neue Aufgabe, Anreize, diese zu bewältigen, und die notwendigen Kompetenzen dafür.
SPIEGEL: Die Menschen müssen also das Gefühl haben, ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben?
Staudinger: Genau. Die sogenannte internale Kontrollüberzeugung ist wichtig, damit man sich neuen Anforderungen nicht ausgeliefert fühlt. Mit unserer Studie konnten wir zeigen, dass es sogar im späteren Erwachsenenalter ein Veränderungspotential in der Persönlichkeit gibt, die wir in der gegenwärtigen Konstruktion unserer Gesellschaft und unseres Lebenslaufes noch nicht genügend ausschöpfen.
SPIEGEL: Weil wir bisher zu sehr davon ausgehen, dass wir uns eben irgendwann nicht mehr ändern können?
Staudinger: Bis ins mittlere Erwachsenenalter gibt es sehr viel Dynamik: Ich muss einen Partner finden, will vielleicht Kinder, muss mich im Job und in der Freizeit definieren. Danach aber gibt es in der Gesellschaft bisher wenig Anreiz, sich noch weiterzuentwickeln. Ich bin überzeugt: Wenn wir es im Beruf und in der Gesellschaft für den Einzelnen auch in der zweiten Lebenshälfte attraktiv machen, sich mit neuen Dingen zu beschäftigen, und gleichzeitig die dafür nötigen Fähigkeiten vermitteln, dann verändert sich dieses scheinbar naturgesetzliche Muster der Persönlichkeitsentwicklung.
SPIEGEL: Gerade im Job ist der Druck ja oft groß dranzubleiben, sich zu verbessern und in Neues einzuarbeiten. Macht es einen Unterschied, ob jemand dazu genötigt wird oder sich von sich aus weiterentwickeln will?
Staudinger: Unsere Studien in Unternehmen zeigen, dass die Unterscheidung zwischen freiwillig und unfreiwillig mit der Realität im Arbeitsleben wenig zu tun hat. Es geht eher um die Frage, wie ich die anstehenden Veränderungen interpretiere. Entdecke ich im Wandel, auch wenn er mir vorgegeben wird, die Chancen oder habe ich das Gefühl, ich werde gezwungen? Das hat natürlich auch damit zu tun, wie ein Unternehmen solche Prozesse begleitet. Viele haben da noch Entwicklungspotential.
SPIEGEL: Kann man diese veränderungsfreundliche Sicht auf die Dinge üben?
Staudinger: Ja, man sollte sich vor allem die eigenen Interpretations- und Denkmuster bewusst machen. Wenn man feststellt, dass man sich oft ausgeliefert fühlt, kann man versuchen, sich mit Zetteln am Spiegel immer wieder zu erinnern, dass man mitentscheidet, wie man die Welt sieht. Innerlich Sätze umzuformulieren in "Ich entscheide mich" anstatt "Ich muss", das ist zum Beispiel ein Perspektivwechsel, den man trainieren kann. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Was die Offenheit angeht, sollte man auch im Alltag darauf achten, manchmal bewusst mit Gewohnheiten zu brechen und mal neue Wege zu beschreiten.
SPIEGEL: Wenn meistens äußere Anforderungen zu etwas Neuem führen, kann man dann überhaupt selbst entscheiden, sich zu wandeln?
Staudinger: Natürlich. Wenn der Wille und die Motivation da sind, geht auch das. Es gibt ja zahllose Beispiele dafür, dass jemand das gemacht hat. Es ist nicht selten der Fall, dass sich Menschen im mittleren Erwachsenenalter fragen: Soll es das jetzt gewesen sein? Und daraus den Anstoß zur Veränderung bekommen.
SPIEGEL: Wo können sie denn mit der Veränderung anfangen?
Staudinger: Viele Menschen wechseln noch einmal den Partner - unbewusst stoßen sie damit auch Veränderungen bei sich selbst an. Aber so weit muss man gar nicht gehen. Auch wenn ich systematisch neue Kontexte aufsuche, werde ich neue Erfahrungen machen, die meine Persönlichkeitsveränderung unterstützen. Wer zum Beispiel immer den gleichen Urlaubsort aufsucht, kann sich bewusst entscheiden, mal ganz wo anders hinzufahren. Oder mal ein Sachbuch statt die immer gleichen Krimis lesen. So gebe ich mir einen Ruck und setze mich mit Neuem auseinander.
SPIEGEL: Wenn sich die Menschen ihr ganzes Leben lang weiterentwickeln: Finden sie mit den Jahren dann mehr zu sich? Werden sie glücklicher?
Staudinger: Das ist natürlich nicht garantiert, aber wer sich weiterentwickelt, hat wenigstens die Chance dazu. Interessant ist dann allerdings die Frage, was man unter "glücklicher" versteht. In der Persönlichkeitsentwicklung gibt es zwei positive Wege. Den einen Weg nenne ich den Wohlbefindensweg, der andere ist der Weisheitsweg. Meist sind wir auf dem Wohlbefindensweg: Wir konzentrieren uns darauf, dass es uns und den Personen, die uns wichtig sind, gutgeht und sich alle wohlfühlen. Das führt häufig dazu, dass man das Erreichte erhalten möchte und eher nicht das Risiko eingeht, durch Veränderung das Glück aufs Spiel zu setzen.
SPIEGEL: Menschen auf dem Weisheitsweg sind risikofreudiger?
Staudinger: Das gehört dazu. Auf dem Weisheitsweg geht es darum, das große Ganze zu verstehen und zum Wohle aller weiterzuentwickeln. Die Zielsetzungen dieser Menschen gehen über das Wohl der eigenen Person und des eigenen Umfelds und auch über die Gegenwart hinaus.
SPIEGEL: Bleibt man denn auf einem Weg, wenn man den einmal eingeschlagen hat?
Staudinger: Darüber wissen wir noch sehr wenig. Ich vermute, es gibt eine Dynamik, man wechselt hin und her.
SPIEGEL: Was sind die Gründe, sich auf die Suche nach dem höheren Ziel im Leben zu machen?
Staudinger: Meist sind das Hindernisse. Wenn Menschen durch kritische Lebensereignisse - zum Beispiel auch durch einen Krieg oder Katastrophen - angestoßen werden, über sich selbst und die Welt nachzudenken, dann gelangen sie mit höherer Wahrscheinlichkeit zumindest eine Zeit lang auf den Weisheitsweg. Wenn alles glattläuft, hat man wenig Anlass, etwas zu verändern. Warum auch? Veränderung kostet Energie, und ich weiß nicht, ob ich damit erfolgreich sein werde.
SPIEGEL: Die Scheu vor Veränderungen ist also durchaus vernünftig?
Staudinger: Ja, wenn es mir gutgeht, gibt es keinen Anlass, etwas zu ändern. Auch dann nicht, wenn ich mich schon genügend anstrengen muss, überhaupt mein Wohlbefinden in den Anforderungen des Alltags und des Lebens zu erhalten. Wieso dann noch über dieses Ziel hinaus denken? Verharrungstendenzen haben ihre eigene, gute Logik. Deshalb ist es mir wichtig, den Wohlbefindensweg nicht als den schlechteren Lebensweg zu sehen. Aber es ist gut zu erkennen, dass es den Weisheitsweg auch noch gibt und dass beide Wege nicht identisch sind.

Das Interview führte SPIEGEL-Redakteurin Eva-Maria Schnurr.Interessiert am Thema Veränderung und Selbstoptimierung? Das neue SPIEGEL WISSEN geht unter dem Titel "Projekt Ich - Neue Strategien für ein besseres Leben" ausführlich der Frage nach, was persönliche Weiterentwicklung bedeutet und wie man auf dem Weg zur Selbstverbesserung zwanghaftes Ego-Tuning vermeidet.Heft bei Amazon bestellen:SPIEGEL SHOP