
Ungewöhnliche Gottesdienste: Der Jahrmarkt-Seelsorger
Kirmes-Pastor Der Pfarrer segnet das Riesenrad
Früh am Morgen ist es ruhig zwischen dem Riesenrad und den Schießständen, den Losbuden und der Achterbahn. Erst am Nachmittag geht es rund auf der Magdeburger Herbstmesse, einer Kirmes mit tausendjähriger Tradition. Conrad Herold läuft durch die Gassen dieser bunten Stadt des Vergnügens, schüttelt Hände, scherzt mit einem Mann in Arbeitshose, der an einem Kinderkarussel schraubt. In einer halben Stunde beginnt der Gottesdienst, und Herold möchte, dass viele kommen.
Conrad Herold, groß, mit dichten grauen Locken, ist evangelischer Pfarrer. Schausteller- und Zirkuspfarrer, um genau zu sein. Einer, dessen Gemeinde weit verstreut ist über Deutschland. Der immer auf Reisen ist, bis zu 120 Festplätze pro Jahr besucht. Der die religiöse Botschaft an grellen und bunten Orten überbringt, die nach Popcorn und Zuckerwatte riechen. Drei Schaustellerpfarrer gibt es in der Evangelischen Kirche in Deutschland, einen in der Katholischen.

Promotion mit 62 Jahren: Schaustellerin mit Doktorhut
Die Gläubigen, für die sie da sind, ziehen den größten Teil des Jahres von Stadt zu Stadt, von Festplatz zu Festplatz. Schausteller leben mehr im Campingwagen als in der eigenen Wohnung. "Da ist es schön, dass die Kirche zu uns kommt", sagt Sven Engelbrecht, 48, ein Schausteller aus Schwerin. Er hat Conrad Herold an diesem Sonntagmorgen den Raum für den ökumenischen Gottesdienst zur Verfügung gestellt. Den größten, den er hat: seinen Autoscooter. Ein wenig sakral anmutender Ort zwar, dafür mit einem Namen, der irgendwie passt: "Stardrive".
Die Kirchenband spielt bereits, als der Pfarrer sich umzieht und die mit Riesenrad und Zirkuszelt bestickte Stola um seinen Hals legt. Die Musiker stehen neben dem Altar, einem Biertisch mit Kerze, Kreuz und aufgeschlagener Bibel. Umlaufende Lichter erhellen den Raum, rot, blau und weiß. Darüber wölbt sich ein stilisierter Sternenhimmel mit Diskokugeln.
Während der Messe im Autoscooter fährt einer los
"Lassen Sie sich einladen, nach vorn zu kommen", sagt Herold mit ausladender Geste in Richtung der Besucher, die überwiegend hinten Platz genommen haben - in den sportlichen Schalensitzen der Autoscooter-Flitzer, die Hände am Lenkrad, die Füße am Gaspedal. "Das sind neue Modelle", preist der Pfarrer. "Man sitzt viel besser, hat mehr PS und sogar eine Hupe." Es sind größtenteils Schausteller und ihre Kinder da, rund 40 Besucher insgesamt. Der Kirmes-Gottesdienst, heißt es, sei immer gut besucht.
Besonders streng geht es hier nicht zu. "Ich mache einen ganz offenen Gottesdienst", sagt der 57-Jährige, der in Erfurt lebt und davor 19 Jahre lang Gemeindepfarrer in Magdeburg war. Wer eine hochliturgische Messe wolle, gehe besser in den Dom. Einmal, erzählt er, sei ein älterer Herr mit seinem Auto während der Messe plötzlich losgefahren. Der Pfarrer nahm es mit Humor. "Ich hatte vorher Fahrchips verteilt, damit die Besucher später eine Runde drehen können", sagt er.
In seiner Predigt widmet sich Conrad Herold der Bedeutung von Äußerlichkeiten und der Frage, ob sich andere Menschen nach Aussehen und Gesichtsausdruck beurteilen lassen. Das ziemlich irdische Ambiente des Autoscooters wirkt da als harter Kontrast. Mit Stars and Stripes und Schriftzügen wie "Hollywood" oder "Rodeo Drive" verkündet die Wand hinter dem Altar den American Way of Life. Am Ende sprechen alle das Schaustellergebet. "Lass mich bedenken mein Vorrecht, als Schausteller Freude und Vergnügen zu bringen allen Menschen", heißt es darin.
Getauft wird spontan
Freude und Vergnügen, sagt Conrad Herold später, sei die Welt, die man als Kirmesbesucher sehe. Aber er kenne eben auch die Abgründe hinter den bunten Kulissen. Die Familienschicksale, die finanziellen Probleme. Herold betreut die Schausteller in allen Lebensphasen. Er kommt zu Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen. Für jeden dieser Anlässe hat er einen eigenen Koffer mit den notwendigen Utensilien. "Es ist immer alles fertig gepackt", erzählt der Pfarrer. "Vor allem Taufen kommen oft sehr spontan." Manchmal bleibt er danach noch eine Weile und geht in die Geisterbahn. Er liebt es, sich erschrecken zu lassen.
Für die meisten Schausteller sei der Glaube wichtig, sagt Sven Engelbrecht, der den Gottesdienst vom Rand seines Autoscooters im Stehen verfolgt hat. Vor allem, weil sie so viel unterwegs seien. "Wenn man reist, braucht man feste Punkte im Leben. Das ist die Familie oder der Glauben", ergänzt Conrad Herold. In diesem jahrhundertealten Berufsstand hätten sich daher Werte erhalten, die es sonst in der Gesellschaft nicht mehr gebe. Zu Einweihungen von Fahrgeschäften oder neuer Zirkuszelte werde oft der Pfarrer gerufen.
Herold ist vor allem auf Jahrmärkten in Thüringen und Sachsen-Anhalt unterwegs, manchmal aber auch in Berlin oder Nordrhein-Westfalen. Es mache ihm Spaß, sagt er, obwohl er an 150 Tagen im Jahr unterwegs sei und seine Frau dann nicht sehen könne. "Sie nimmt es gelassen, aber familienfreundlich ist mein Job nicht." Neulich habe er das erste Mal seit Monaten wieder einen Ausflug mit ihr unternommen. Auf der Kirmes, sagt er, waren sie nicht.

KarriereSPIEGEL-Autor Sebastian Höhn (Jahrgang 1979) ist freier Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Berlin.Homepage: Sebastian Höhn, Journalist und Fotograf