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Wahlversprechen Was sich Pfleger wirklich wünschen

Mehr Lohn, weniger Stress: Alle großen Parteien versprechen, die Situation für Pflegekräfte zu verbessern. Doch der wichtigste Punkt, sagen die Betroffenen, findet sich in keinem Wahlprogramm.

Genau fünf Minuten sind für den Blutzucker vorgesehen. Klick, die Uhr läuft:

Die Schwester klingelt an der Haustür, der Patient macht auf, wird von ihr begrüßt. Er setzt sich in seinen Sessel, sie packt ihre Utensilien aus. Sie desinfiziert ihre Hände und seine Fingerkuppe, dann der Pieks, Bluttropfen auf Teststreifen. Passend zum Ergebnis bereitet sie die Insulinspritze vor. Dann wird gespritzt. Sie desinfiziert ihre Hände, packt ihre Sachen, geht zur Wohnungstür: "Bis heute Abend!"

"Klar schaffe ich das in fünf Minuten", sagt Schwester Aline Eibisch. Seit mehr als 20 Jahren kenne sie die Handgriffe. "Aber ohne Routine geht das nicht. Und ich wechsle gern mehr als drei Worte mit dem Patienten, dann brauche ich länger."

Der Arbeitsalltag für Pflegekräfte ist streng durchgetaktet. Jeder Tätigkeit ist ein fester Preis und eine fest Arbeitsdauer zugeordnet. Was gut bei Fließbandarbeitern funktioniert, soll beim Dienst am Menschen auch kein Problem sein. Lange überziehen darf eine Pflegerin beim Patienten nicht: Der nächste wartet schon, und wie schnell sie durch den Berufsverkehr kommt, ist Glückssache.

Eibisch arbeitet beim Pflegedienst "Care-4-You" im brandenburgischen Hennigsdorf, eine Kleinstadt gerade noch im Radius der Berliner S-Bahn. 20 Mitarbeiter betreuen hier rund 100 Patienten: Schwerkranke, Senioren und sogenannte Palliativpatienten, die ihren baldigen Tod erwarten.

20 für 100, das klingt nicht schlecht. Aber viele Patienten benötigen zwei, manche drei Besuche am Tag, manche auch am Wochenende oder nachts. Pflegefachkräfte wie Eibisch, die zum Beispiel auch Spritzen setzen, haben pro Tag im Schnitt 27 Patienten. Pflegehelfer, die 30 bis 60 Minuten beim Patienten verbringen, auch in der Wohnung putzen oder Einkäufe erledigen, haben täglich rund zehn Einsätze.

"Ich kann die Leute verstehen, die wieder aussteigen"

Gearbeitet wird für ein mickriges Gehalt, oft sehr früh oder spät, und häufig auch sehr lang. Bettlägerige Patienten müssen herumgehoben werden, Demenzkranke werden manchmal aggressiv. Das schwere Heben sorgt für Rückenschmerzen, der strenge Takt stresst. Und oft besteht der Job darin, Menschen ganz allmählich beim Sterben zuzusehen.

Das Resultat: Es gibt zu wenig Pflegekräfte, ambulant, aber auch in Kliniken und Pflegeheimen. "Wir haben eine enorme Personalfluktuation", sagt Norbert Buchholz, der einen ambulanten Pflegedienst in Bergisch Gladbach leitet. "Und ich kann die Leute verstehen, die wieder aussteigen."

Vor zwei Jahren machte er deutschlandweit von sich reden, weil er eine Stellenanzeige schaltete: "Suche Wollmilchsau. Freuen Sie sich auf ausgelaugte Kollegen, ein Aufgabenprofil aus langweiligen Routineaufgaben, keine Aufstiegsmöglichkeiten, Überstunden ohne Ende und ein attraktives Gehalt von 850 Euro brutto."

Tatsächlich zahlt Buchholz seinen Pflegefachkräften mit Berufserfahrung 16,50 Euro pro Stunde, viele kommen im Monat sogar auf 3200 Euro. Das reiche bei ihm im Großraum Köln aber kaum, um eine Familie zu ernähren, sagt er.

Und doch liegen die Löhne damit noch über dem von den Linken geforderten Mindestlohn von 14,50 Euro pro Stunde. Niemand solle in dem Beruf weniger als 3000 Euro verdienen, so das Wahlversprechen - für das die Linke die Vermögensteuer wieder einführen will.

Auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat gerade 30 Prozent mehr Lohn für Pflegekräfte versprochen. Aber Buchholz winkt nur ab: "Das wird so nicht kommen. Selbst wenn die wollen, kriegen die das nicht hin."

"Mein Beruf ist mehr als Po abwischen"

Die Mehrkosten will die SPD mit einer neuen Bürgerversicherung finanzieren, in die alle einzahlen, auch Selbstständige und Beamte. Buchholz glaubt trotzdem nicht, dass dies seine Situation verbessern würde: "Die Preise für unsere Arbeit werden zwischen Krankenkassen und Pflegeverbänden ausgehandelt. Das ist furchtbar kleinteilig, das ist Feilschen für Profis."

Viele seiner Aufträge werden außerdem von Patienten oder Angehörigen privat gezahlt - und "wenn es darum geht, wer die Oma im Alltag begleitet, wählen die meisten praktisch ausschließlich nach dem Preis aus".

Dass Pflege ein Thema ist, dass viele Menschen beschäftigt, haben mittlerweile auch die Parteien erkannt. Von der Linken bis zur AfD versprechen in ihren Wahlprogrammen alle großen Parteien - bis auf CDU und FDP - einen Mindestpersonalschlüssel.

"Das ist in Kliniken und Pflegeeinrichtungen auf jeden Fall sinnvoll", sagt Eibisch, die bis vor einem halben Jahr als Kinderkrankenschwester in einem Berliner Krankenhaus gearbeitet hat. "Wenn man zum Beispiel den Nachtdienst nicht allein, sondern zu zweit macht, entlastet das enorm." In der ambulanten Pflege würde das aber wenig helfen: Waschen, anziehen und medikamentieren funktioniere gut allein - wenn man genügend Zeit habe.

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Wahlen: Die wichtigsten Forderungen der Parteien gegen den Pflegenotstand

Foto: Arno Burgi/ picture alliance / dpa

Außerdem wollen mehrere Parteien die Ausbildung für Pflegeberufe verbessern: Schulgeld, das in einigen Bundesländern für einige Lehrgänge noch fällig wird, soll wegfallen. Die meisten Krankenpfleger zahlen es schon jetzt nicht. Außerdem soll flächendeckend die Ausbildung reformiert werden: Zwei allgemeine Jahre, ein Jahr zur Spezialisierung in der Kranken-, Alten- oder Kinderpflege.

Dass es anschließend auch mehr Möglichkeiten zum Studium geben soll, sieht Buchholz skeptisch: Die examinierten Pflegekräfte würden sich Führungspositionen erhoffen - von denen es aber zu wenig gebe.

"Wirklich aufgewertet würde unser Beruf, wenn er nicht mehr nur aufs Po abwischen verkürzt würde", sagt Eibisch. Pflege sei viel komplexer, die Erfolge des Berufs in den vergangenen Jahren sähen viele nicht: "Früher lagen sterbende Patienten oder Schwerstkranke oft jahrelang im Krankenhaus. Dass sie heute in ihrem Zuhause leben können, verdanken wir dem Ausbau der ambulanten Pflege."

Natürlich hätte in dem Job niemand etwas dagegen, mehr Geld zu verdienen. Aber das sei nicht der wichtigste Faktor bei der Berufsentscheidung, meint Eibisch. Wer die Pflege wirklich attraktiv machen wolle, müsse ihr das Menschliche zurückgeben: Keine Abrechnung im Minutentakt, sondern eine, die den Pflegekräften die Möglichkeit gibt, auf die Patienten einzugehen. "Das wäre körperlich weniger anstrengend und psychisch befriedigend. Die Mehrkosten wären gut investiert."

Aber dieser Punkt findet sich in keinem Wahlprogramm.

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