Scheiterrisiko als Fußballer Wie ausgewechselt

Torwart Michael Rensing: "In meiner Jugendzeit habe ich Druck nie empfunden"
Foto: INA FASSBENDER/ REUTERSZu Tausenden sind junge Männer davon beseelt, Fußballprofi zu werden. Doch der Markt ist für das Überangebot viel zu klein. Wie bei Casting-Shows, in denen immer neue Talente bestehen müssen, wächst der Druck von Runde zu Runde. Am Ende setzen sich einige wenige durch.
Sind es die besonders Talentierten, die Härtesten, ist es etwa mehr Glückssache? Als junger Bayern-Spieler berechtigte Timo Heinze zu den schönsten Hoffnungen, dann musste er sich von Star-Träumen trennen. Einige seiner alten Weggefährten erzählen über die Anforderungen an einen modernen Fußballprofi, ihren eigenen Weg, über Rückschläge und den Druck in einem hysterischen Massenbetrieb.
Ex-Trainer Kurt Niedermayer: "Man hofft und leidet mit ihnen"
Timo Heinzes früherer Coach ist vor Freude ganz aus dem Häuschen, als er vom "Nachspielzeit"-Buch hört. "Man lernt so viele junge Männer kennen, man hofft und leidet mit ihnen, redet mit den Eltern, will sie schützen vor dem ganzen Druck, der heute herrscht", sagt Kurt Niedermayer, der kürzlich seinen Jugendtrainer-Job beim FC Bayern München räumen musste. "Das finde ich ganz, ganz toll, was der Timo da gemacht hat."
Natürlich bekam Niedermayer mit, wie Heinzes Karriere bei Bayern München bergab ging. Dabei hätte er ihm den Sprung in die erste Liga jederzeit zugetraut. "Timo ging in jeden Zweikampf, man musste ihn eher bremsen." Dass es dann nirgendwo weiterging, erklärt Niedermayer so: "Wer bei Bayern scheitert, hat es auch woanders schwer, da schwingt immer mit, man habe nicht genug Biss - auch wenn's gar nicht stimmt."
Torwart Michael Rensing: Hoch gestiegen, tief gefallen, wieder aufgerappelt
Michael Rensing kennt das Gefühl genau, wenn alles im Fußball wegbricht. 2008 sollte er beim FC Bayern Nachfolger von Oliver Kahn werden, doch Jörg Butt erhielt den Vorzug. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit kam der 1. FC Köln, Rensing wurde Nummer 1, hielt stark, aber nach dem Abstieg gab der Verein ihn an Bayer Leverkusen ab. Rensing blieb nur die Option als Stellvertreter des jungen Stammtorhüters Bernd Leno.
Rensing hat bis heute regelmäßig Kontakt zu Timo Heinze; er weiß selbst, "wie schwer es ist, nach oben zu kommen". Schnell ist zu erkennen, welche Kraft ihn die letzten Jahre gekostet haben, aber verbittert ist er nicht. Die Stärke von Heinzes Buch sieht Rensing darin, dass es die Aspekte beleuchte, an denen ein aufstrebender Spieler scheitern oder gar zerbrechen könne - schwere Verletzungen, zu hohe Sensibilität, das Nachdenken auch während des Spiels über einzelne Aktionen.
"In meiner Jugendzeit bei Bayern München habe ich Druck eigentlich nie empfunden", sagt Rensing heute, "erst später änderte sich das" - bei ihm explosionsartig. Rensing sieht die Trainer als wichtige Basis. "Klar gibt es auch Fälle, wo ein Trainer einen Spieler einfach nicht mag, ihm etwas nicht passt", so der Torhüter. Ebenso schlimm könne es sein, wenn ein Trainer nicht mit den Spielern rede: "Dann weiß man nur schwer, woran man ist."
Rensing rät jungen Spielern, "unbedingt auf ein zweites Standbein" zu achten, sich Alternativen zu überlegen: "Ich hab auch mal dran gedacht, nebenbei zu studieren." Inzwischen habe er sich vom Druck befreit und denke "nicht daran, was man von mir erwartet", sagt Rensing, "heute spiele ich nicht, weil ich muss, sondern weil ich es liebe, weil es meine ganze Leidenschaft ist."
Thomas Müller: "Ich laufe nicht voller Wut um die Koppel"

Nationalspieler Thomas Müller: Der tut nix, der will nur spielen
Foto: Peter Steffen/ dpaThomas Müller und Timo Heinze lernten sich 2008 kennen bei den Bayern-Amateuren, trainiert von Hermann Gerland. Müller, ein Mann für die Überraschungsmomente im Fußball und auch für originelle Schnoddrigkeit in Interviews, hat ein Leichtfuß-Image, ist aber sehr reflektiert und geerdet. Für seine Antworten lässt er sich viel Zeit, will so präzise sein wie möglich. "Der Druck heutzutage liegt vor allem darin, konstant gute Leistungen zu bringen", sagt er. Man dürfe nicht zu verkopft sein, Fehler dürften einen nicht runterziehen. Mit dem Glauben an sich selbst verliere man "die Durchschlagskraft" - und womöglich der Trainer dann das Vertrauen. Ein Teufelskreis.
Müller erinnert sich an ein Spiel, ein paar Jahre zurück, vor den Augen von Uli Hoeneß: Von 15 Ballkontakten gingen 13 daneben. "Ich habe gespielt wie in der Kreisklasse, aber mich selbst nicht verrückt gemacht", sagt er, "wenn man seine Stärken kennt, gibt einem das Sicherheit." Die hatte Müller schon als Zwölfjähriger. Er erzählt die Geschichte von einem Tennismatch, bei dem er nach 5:1-Rückstand den Satz mit aller Kraft noch drehte. "Mein Gegner war völlig im Eimer, das hat ihn verunsichert. Seitdem weiß ich, dass ich auch nach Scheiß-Aktionen noch wiederkommen kann."

Ein Titan sagt Servus, ein junges Talent ist dabei. Bei Oliver Kahns Abschiedsspiel 2008 wurde Timo Heinze zu seiner eigenen Verblüffung eingewechselt - ein Auszug aus seinem Buch "Nachspielzeit". mehr...
Müller ist gefestigt, das hat auch mit seiner Familie zu tun, um ihn herum ist viel Harmonie. "Mit der Zeit verinnerlicht man, dass Fußball ein Tagesgeschäft ist. Ich hatte ganz ehrlich noch nie richtige Probleme, mit dem Druck klarzukommen." Auch er hat schon mal bei einem Mentaltrainer gesessen - "alle Spieler haben das". Momentan brauche er diese Hilfe nicht, "aber die Institution an sich finde ich wichtig. Das sollte jeder für sich entscheiden".
Warum er immer so entspannt wirkt? Müller lacht herzlich. "Ich kann doch nichts dafür, dass ich damit umgehen kann. Ich gehe weder Holz hacken nach einem vergeigten Spiel, noch laufe ich voller Wut um die Koppel." Manche Spieler würden vor dem Match noch im Tunnel Rammstein hören, andere läsen laufend Witze, um sich zu pushen - "das brauche ich alles nicht. Ich gehe raus und mach' mein Ding." Müller weiß um sein Glück eines privilegierten Lebens, von dem so viele nur träumen. "Ich bin jeden Tag dankbar dafür."
Georg Niedermeier: Sehr besonnen

Georg Niedermeier (VfB Stuttgart): "Nach oben kommen und auch dort bleiben"
Foto: Bernd Weissbrod/ dpaDer Stuttgarter Abwehrspieler Georg Niedermeier war in der Bayern-Jugend Timo Heinzes bester Freund und steht ihm bis heute sehr nahe. Niedermeier schätzte Heinzes Verlässlichkeit, die Gespräche über den großen Traum vom Fußballprofi. Beide machten sich stets bewusst, dass es auch anders kommen könnte, und spielten die Alternativen durch. "Das ist auch der Grund, warum Timo loslassen konnte", glaubt Niedermeier, "das wäre nicht jedem gelungen."
Gut nachvollziehen kann er, wie belastend es sein muss, wenn "man keine Antwort bekommt, warum man nicht spielt", und die Karriere endet. "Druck ist bei Bayern schon in der Jugend da, in der ersten Liga wird er noch größer, aber anders", erzählt Niedermeier. Die Spiele würden viel körperlicher. "Es geht dann nicht mehr nur darum, nach oben zu kommen, sondern auch, dort zu bleiben." Denn da diskutierten plötzlich 70.000 Trainer mit.
Unter den Gescheiterten seien Riesentalente, mitunter stimme auch die Einstellung nicht. Talent reiche nur bis zu einem gewissen Grad; nur wer jeden Tag an sich arbeite, sich immer wieder beweisen wolle, könne es auf Dauer im Hexenkessel Bundesliga schaffen. "Als Jugendlicher ist vielen das nicht bewusst, da geht es oft um Partys, Mädels, Hobbys", sagt Niedermeier. Tückisch: Zur Erkenntnis, wie hart der Job des Profis ist, komme man erst, wenn man mittendrin sei.
Wie man damit fertig wird? "Ein Mentaltrainer kann gut tun, das ist für manche Spieler eine gute Sache, aber sicher nicht für jeden geeignet." Für ihn sei das derzeit kein Thema. Das Geheimnis liege in der richtigen Mischung aus Ehrgeiz und Reflexion. "Ein zweites Standbein sollte man in Aussicht haben und ein Umfeld, dem man vertrauen kann", sagt auch Niedermeier.
Mats Hummels: "Von der ganzen Hysterie nicht anstecken lassen"

Meister-Verteidiger Mats Hummels: "Mein Gott, ich mache auch mal schlechte Spiele"
Foto: Angelika Warmuth/ dpa"Ein perfekter Fußballer? Gibt es den?" Mats Hummels überlegt kurz, findet die Frage zu pauschal. Hummels ist ein sehr eloquenter Mann mit einem abgeklärten Blick auf seinen Beruf. Als er mit Timo Heinze bei der zweiten Mannschaft des FC Bayern spielte, verbrachten sie so manchen Abend beim Pokern.
Heinzes letzte qualvolle Monate beim FC Bayern bekam Hummels, bereits bei Borussia Dortmund, nicht mehr mit. Umso bestürzter reagierte er auf die Nachricht vom Karriereende. "Ich wusste nicht mal, dass Timo auf Bali war", sagt Hummels. "Es gibt so viele geile Talente, die wir nie kennen lernen, weil ihnen das eine Quäntchen Glück fehlte. Aus meiner Jugend haben es nur zwei in die erste Liga geschafft." Dutzende mussten aufgeben, er hat sie nicht vergessen.
Mats Hummels schaffte als Fußballer einen glatten Durchmarsch, gefördert wurde er nicht zuletzt von seinem Vater Herrmann, einem Trainer. "Ich bin glücklich, dass ich dieses Leben führen darf", sagt er, "auch wenn der Druck manchmal wirklich grotesk ist: Es geht mir ja gut." Für den Verteidiger beim Meister BVB gibt es eine Art Dreiklang, wie man Profi wird und sich etabliert: gesund bleiben, körperlich wie geistig robust sein, dazu ein bisschen Dusel. Denn es komme schon darauf an, "zum richtigen Zeitpunkt Glück zu haben, gesehen zu werden, am richtigen Ort zu sein". Hummels ist so ehrlich zuzugeben, dass Fußballer natürlich auch von den Verletzungen anderer profitieren.
Den häufig geforderten Einsatz von Mentalcoaches sieht er skeptisch: "Ich will das nicht schlecht reden, ich glaube halt nur nicht an die Effekte. Man darf sich von dieser ganzen Hysterie nicht anstecken lassen." Als Ausgleich helfen ihm Tennis oder Beachvolleyball. Ein missglücktes Spiel nehme er zwar einige Stunden mit nach Hause - aber: "Mein Gott, seit ich acht Jahre alt bin, mache ich auch mal schlechte Spiele."

KarriereSPIEGEL-Autor Alex Linden (Jahrgang 1977) studierte Sprach- und Kulturwissenschaften an der Uni Siegen und promovierte über den Geheimdienst BND. Seit seinem Volontariat beim "Westfälischen Anzeiger" schreibt er als Journalist vor allem über Sozial- und Kriminalthemen, seit 2006 auch für SPIEGEL ONLINE.