Schichtarbeit in Corona-Zeiten "Die Leute nicht einfach einteilen, sondern nach ihren Wünschen fragen"
SPIEGEL: Getrennte Teams, neue Abstandsregeln, Risikogruppen, Reiserückkehrer - viele Schichtbetriebe fahren jetzt unter neuen Voraussetzungen wieder hoch. Was sind die größten Herausforderungen?
Herbers: In den kommenden Monaten wird der Bedarf an Mitarbeitern in vielen Betrieben sehr stark schwanken. Wie viele Leute man wann wo braucht, ist schwer zu prognostizieren, weil sich die Parameter so schnell ändern können. Unternehmen müssen jetzt bei der Einsatzplanung flexibler werden, kleinere Gruppen bauen und physische Kontaktpunkte minimieren: Ballungen in Umkleiden vermeiden, Pausenzeiten entzerren. Es wird derzeit viel auf die Arbeit im Homeoffice geschaut, aber das betrifft ja nur einen Teil der arbeitenden Bevölkerung. Wenn man über Flexibilität diskutiert, muss man auch an Schichtarbeiter denken. Die Krise macht deutlich: Starre Schichtpläne sind nicht nur schlecht für Mitarbeiter, sondern auch für Unternehmen.
Jörg Herbers
SPIEGEL: Viele Leute arbeiten gern flexibel, aber Unternehmen brauchen Planungssicherheit.
Herbers: Unternehmen fehlt es oft an Resilienz. Es gibt keine gute Planung für Krisen. Klar, den Totalausfall kann man kaum planen, aber kleinere Betriebsstörungen kann man gut abfedern. Viele Firmen sollten sich nach der Krise daran erinnern, dass ganz viele Abläufe nur aus Gewohnheit so sind, wie sie sind.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Herbers: Oft werden Mitarbeiter pauschal in Kurzarbeit geschickt. Es wäre viel besser, eine modellbasierte Bedarfsplanung zu machen. Moderne Optimierungsalgorithmen berücksichtigen dann noch die Wünsche der Mitarbeiter, etwa nach einer besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Familie.
SPIEGEL: Na ja, viele dürften ja ähnliche Wünsche haben. Brückentage will fast jeder freibekommen.
Herbers: Das mag sein, aber es ist wichtig, nicht nur Urlaubsanträge und Schichten zu koordinieren, sondern auch grundsätzliche Wünsche und Besonderheiten abzufragen und im System zu berücksichtigen. Die Leute nicht einfach einzuteilen, sondern wirklich kollaborativ zu planen. Der Infektionsschutz ist ein enges Korsett, aber er lässt sich in eine systematische Planung mit einbeziehen. Wichtig ist die kontinuierliche Interaktion zwischen Unternehmen und Mitarbeitern – bei der Büroarbeit ergibt die sich meist automatisch, in der Produktion muss man erst einmal dafür sorgen, da ist das derzeit noch alles andere als üblich.
SPIEGEL: Und wie sieht das aus?
Herbers: Wir gucken aus einer digitalen Denke in diese Zukunft. Der konziliante Ausgleich der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat großes Potenzial von beiden Seiten. Die stehen stark gegeneinander, aber man kann einen systematischen, transparenten Ausgleich schaffen, in dem man Arbeitnehmer viel stärker an der Planung beteiligt. Viele Betriebe haben noch nicht erkannt, welche Ausgleiche sie schaffen können. Unsere Erfahrung zeigt: Ältere Mitarbeiter interessieren sich tendenziell eher für die Frühschichten und wollen verlässliche Pläne, die sich wenig ändern. Jüngere möchten meist viel flexibler arbeiten, oft von Woche zu Woche unterschiedlich.
SPIEGEL: Hilft es, wenn ein Betrieb möglichst divers aufgestellt ist?
Herbers: Ja, divers aufgestellte Betriebe können Freiheitsgrade haben, die sie derzeit noch nicht ausschöpfen. Je unterschiedlicher die Leute im Leben stehen, desto verschiedener sind ihre Wünsche, und das eröffnet Gestaltungsspielräume. Wenn man diese Wünsche systematisch erfasst, hat man große Chancen, Dinge zu tun, die für alle gut sind, und Interessenausgleiche sichtbarer zu machen. In die neue Welt digitaler Entscheidungsintelligenz jenseits des klassischen starren Schichtplans muss man erst einmal hineinwachsen, auch als Unternehmen – und Vertrauen schaffen.
SPIEGEL: Manche Branchen müssen Sonderschichten fahren, andere haben gar nichts zu tun…
Herbers: Ja. Wir haben deshalb mit etlichen Industrie- und Handelskammern ein kostenloses Angebot aufgesetzt, das es Unternehmen erlaubt, flexible Personalpartnerschaften einzugehen.
SPIEGEL: Wie sieht das aus?
Herbers: McDonald's und Aldi haben das schon früh in der Krise vorgemacht: Die Restaurant-Mitarbeiter konnten nicht mehr arbeiten, aber die Supermärkte brauchten dringend Leute – da gab es dann einen Austausch auf Basis befristeter Arbeitsverträge. Auch eine Arbeitnehmerüberlassung ist möglich, da gibt es verschiedene Ansätze, die sowohl Arbeitnehmern wie auch Firmen helfen können. Wir bieten so etwas für größere und kleinere Unternehmen an, gerade auch im Handwerk, die einander mit Personal aushelfen und so Auftragsspitzen oder -flauten abfedern können.
Jörg Herbers
SPIEGEL: Sollen wir jetzt etwa alle zu potenziellen Leiharbeitern werden?
Herbers: Nein, solche Vereinbarungen unterliegen natürlich auch der betrieblichen Mitbestimmung. Aber es ist für Firmen eine gute Möglichkeit, nicht nur durch diese Krise zu kommen, sondern insgesamt agiler zu werden. Wir beobachten, dass es nicht nur zwischen Firmen, sondern in großen Firmen selbst zwischen verschiedenen Bereichen viel zu wenig Austausch gibt. Da bleibt viel Potenzial einfach ungenutzt liegen.
SPIEGEL: Schweißt die Krise auch Mitbewerber zusammen?
Herbers: Schwer zu sagen. Derzeit gibt es eine hemdsärmlige, solidarische Grundstimmung. Aber ich bezweifle, dass dieses Phänomen von Dauer ist.