
Von Beruf Schrankenwärter: Immer droht das Abstellgleis
Bahnwärter Der Letzte zieht die Schranke hoch
Burkhard Winter, 60, kurbelt und kurbelt. "Wenn es kalt ist, geht's schwerer", sagt er. Es ist 11.13 Uhr, gleich kommt die Regionalbahn aus Berlin. Dann muss die Schranke unten sein. Winter hat einen Beruf, der vom Aussterben bedroht ist: Er ist Schranken- und Weichenwärter im brandenburgischen Wriezen nahe der polnischen Grenze.
Der Zug hält im Bahnhof. Bis er wieder nach Berlin zurückfährt, hat Winter 30 Minuten nichts zu tun. Er setzt sich an den Schreibtisch und blättert in einer Eisenbahner-Zeitschrift. Lesen darf er, Radio und Fernsehen sind verboten, das würde zu sehr ablenken. Seine Füße stecken in Hausschuhen, verlassen muss er das Stellwerk während der Arbeitszeit in der Regel nicht. Essen bringt er sich selbst mit. "Ich esse mittags gern Kuchen", sagt er.
Das rund hundert Jahre alte Stellwerk wirkt wie aus der Zeit gefallen. In dem langgestreckten Raum reihen sich unzählige Stahlhebel aneinander, große und kleine. Sie sind über Drahtseile mit Weichen und Signalen verbunden. Topfpflanzen und Palmen stehen dazwischen. "Eine ist aus Mallorca", sagt Winter. Auf einer Pinnwand haben sich im Laufe der Jahre viele Fotos angesammelt. Vor allem Züge mit Dampflokomotiven sind zu sehen. Burkhard Winter hat diese Zeiten noch selbst erlebt. "Als ich jung war, sind wir hier noch vom Rauch der Dampfloks eingenebelt worden."

Alte Handwerksberufe: Als Männer noch Fußbälle nähten
Der Mann mit dem kantigen Gesicht ist ein Relikt einer vergangenen Epoche. Der Eisenbahner des Industriezeitalters, von dessen ständiger Wachsamkeit der störungsfreie Zugverkehr abhängig war. Schon sein Vater war Eisenbahner. Sein Bruder wurde es ebenso, seine Frau arbeitete als Schaffnerin. "An meinem 18. Geburtstag habe ich hier auf dem Stellwerk angefangen", sagt Winter. Das habe er sich damals so gewünscht.
Zu DDR-Zeiten ließ er sich bei der Deutschen Reichsbahn zum Betriebs- und Verkehrseisenbahner ausbilden, ein Beruf, den es heute nicht mehr gibt. Die Deutsche Bahn hat zwar den sogenannten Eisenbahner im Betriebsdienst, der auch für Bahnanlagen zuständig ist. Aber die Bedienung mechanischer Schranken und Weichen wird dem Nachwuchs nicht mehr vermittelt.
"Der Mensch ist ein Risikofaktor"
Über kurz oder lang würden auch die letzten Wärterposten von Computern ersetzt, erklärt ein Bahnsprecher. Auf einem Stellwerk wie in Wriezen, das in drei Arbeitsschichten betrieben wird, könne man mindestens fünf Stellen einsparen. Entlassen werde aber niemand. Die Bahnwärter würden gegebenenfalls umgeschult, zum Beispiel zum Fahrdienstleiter. Außerdem sei die Technik sicherer: "Der Mensch ist ein Risikofaktor."
Burkhard Winter kann sich nicht erinnern, jemals einen ernsten Fehler gemacht zu haben. Unfälle habe es in seiner Zeit nicht gegeben, auch nicht am Bahnübergang. Seit seiner Ausbildung arbeitet er am Bahnhof in Wriezen, der Stadt, in der er geboren wurde, aufwuchs und bis heute lebt. In mehr als 40 Jahren hat sich sein Arbeitsweg nicht verändert. Zu Fuß braucht er acht Minuten bis ins Stellwerk, der Ort, der zu seinem zweiten Zuhause geworden ist.
Gegen 12.12 Uhr ertönt ein lautes Signal. Es kündigt einen neuen Zug an und ist für Burkhard Winter der Beginn eines aufwendigen Procedere. An einem wuchtigen Metallschrank zeigt sich hinter einem Sichtfenster eine weiße Scheibe. "Das ist der Befehlsempfang", sagt er. Mit einem großen Hebel stellt er eine Weiche. Dann ist wieder Kurbeln angesagt, für die Schranke vor seinem Fenster. Als sie unten ist, löst sich an der Winde ein Schloss, das einen Schlüssel freigibt. Den braucht Burkhard Winter jetzt, um den Fahrstraßenhebel umzulegen. Wieder rastet ein Schloss ein. "Nun sind Weiche und Schranke nicht mehr zu bewegen, eine Sicherheitsvorrichtung", erklärt er. Erst danach erhalte der Zug freie Fahrt.
Eine Bahn pro Stunde
Erneut ist es die Regionalbahn aus Berlin. Die Strecke wird von der Ostdeutschen Eisenbahn betrieben, für die Infrastruktur ist die Deutsche Bahn zuständig. Je Richtung kommt eine Regionalbahn pro Stunde. "Es ist ruhig geworden in den letzten Jahren", sagt Winter. Güterzüge würden hier schon lange nicht mehr fahren.
Das Erscheinungsbild des Bahnhofs zeugt davon. Nur zwei von ehemals vier Bahnsteigen sind geblieben. Wo früher Rangiergleise waren, ist eine Brache. Vor der Wende sei hier viel los gewesen, sagt Winter. Die Braunkohle-Züge aus der Lausitz fuhren durch den Bahnhof. Es gab eine Zuckerfabrik, ein Holz- und ein Betonwerk. Die Betriebe hatten eigene Gleisanschlüsse. Ständig wurde hin- und herrangiert: "Da musste man an der Schranke ganz schön aufpassen." Das Stellwerk, in seiner schwindenden Bedeutung, steht jetzt weit abseits der zwei verbliebenen Gleise.
Langeweile scheint bei Burkhard Winter deshalb nicht aufzukommen. Irgendwas gebe es immer zu tun. Den Boden fegen, die Fenster putzen - das müsse ja auch mal gemacht werden. "Ich lasse es ruhig angehen", sagt er. Und in seinem Alter sei das ja auch ganz angenehm. Der Job mache ihm Spaß, auch nach so langer Zeit noch. "Ich hab's nie bereut." Wie lange er noch auf seinem Stellwerk sitzen darf, weiß Burkhard Winter nicht. Wenn er Glück hat, kann er der Modernisierung bis zu seiner Rente trotzen.

KarriereSPIEGEL-Autor Sebastian Höhn (Jahrgang 1979) ist freier Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Berlin.Homepage: Sebastian Höhn, Journalist und Fotograf