Sozialgericht Hannover Berufsgenossenschaft muss nach Arbeitsunfall für Sex zahlen

Eine Sexualbegleiterin mit einem Kunden (Symbolbild)
Foto: David Ebener / picture alliance / dpaAuch Sex und persönliche Nähe können Versicherungsleistung sein: Nach einem schweren Arbeitsunfall kann die Berufsgenossenschaft (BG) zur Kostenübernahme einer »Sexualassistenz« zur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse schwerbehinderter Unfallopfer verpflichtet werden, entschied das Sozialgericht Hannover (Aktenzeichen: S 58 U 134/18 ). Sie könne im Rahmen eines persönlichen Budgets als Leistung zur sozialen Teilhabe gewährt werden, um »das gestörte seelische Befinden des Behinderten« zu verbessern und sein Selbstbewusstsein zu stärken, so die Richter weiter.
Der Kläger, der nach einem Arbeitsunfall schwerbehindert ist, hatte auf Kostenübernahme für eine zertifizierte Sexualassistenz geklagt. Im Dezember 2003 hatte er auf dem Heimweg von seiner Berufsausbildungsstätte mit seinem Pkw einen schweren Verkehrsunfall. Erst am 15. April 2005 konnte er aus der Reha nach Hause entlassen werden.
Folgeantrag auf Sexualbegleitung wurde zunächst abgelehnt
Auch nach der Reha bestanden bei ihm noch schwere Funktionsbeeinträchtigungen und Hilfsbedürftigkeit bei Alltagsdingen wie An- und Ausziehen, Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Die BG erkannte den Unfall als Arbeitsunfall an. Dem zu einem Grad von 100 schwerbehinderten Mann wurden die Merkzeichen »aG« (außergewöhnliche Gehbehinderung), »G« (erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr), »H« (Hilflosigkeit) und »B« (Begleitperson) zuerkannt.
Auf Antrag des Mannes schloss der Unfallversicherungsträger mit ihm einen Vertrag über ein persönliches Budget. Dabei bewilligte die BG als Leistung zur sozialen Teilhabe in der Gemeinschaft auch Leistungen für Sexualbegleitung durch »zertifizierte Dienstleisterinnen« für den Zeitraum März 2016 bis insgesamt Februar 2018. Eine Sexualassistenz bietet alten und behinderten Menschen Nähe und ein intimes Zusammensein. Das können einfache Umarmungen, Gespräche oder auch Geschlechtsverkehr sein.
Den Folgeantrag zur Kostenübernahme der Sexualassistenz ab März 2018 lehnte der Unfallversicherungsträger jedoch ab. Leistungen zur Befriedigung des Sexualtriebs fielen nicht in den Bereich der Heilbehandlung oder Pflege. Es handele sich nicht um eine »Hilfe bei gewöhnlich regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens«. Auch Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft lägen nicht vor, weil die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch den Einsatz Prostituierter nicht die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermögliche oder erleichtere.
Die Richter am Sozialgericht Hannover sahen das anders. Sie sprachen dem Mann die Kostenübernahme für eine zertifizierte Sexualassistenz im Rahmen seines persönlichen Budgets zu.
Leistungen seien auch da, um »Selbstbewusstsein zu stärken«
In der Urteilsbegründung hieß es, Leistungen zur sozialen Teilhabe seien nicht darauf beschränkt, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung des Alltags bereitzustellen. Sie sollen auch »das gestörte seelische Befinden des Behinderten verbessern und sein Selbstbewusstsein stärken«. Sexuelle Bedürfnisse könnten hier indirekt eine große Rolle für die persönliche Entwicklung und das seelische Befinden spielen.
So sei eine »selbstbestimmte Sexualität Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und soziale Eingliederung des Menschen mit Behinderung«, urteilte das Sozialgericht. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.