Sexuelle Belästigung von Flugbegleitern "Lange Haare, Dutt und Hütchen - das wird als Firmenidentität verkauft"

Eine Studie zeigt: Jeder zweite Flugbegleiter hat schon sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren
Foto: James Lauritz/ Getty Images
Sylvia Gaßner, Jahrgang 1982, hat von 2006 bis 2010 als Flugbegleiterin gearbeitet. Seit 2010 ist sie bei der "Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V." (UFO) tätig, seit vergangenem Jahr als Referentin für Beruf und Politik.
SPIEGEL ONLINE: Frau Gaßner, im Mai haben Sie eine Umfrage zu sexueller Belästigung von Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern am Arbeitsplatz veröffentlicht - wie groß ist das Problem?
Gaßner: An der Umfrage haben über 1000 Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter teilgenommen und von ihren Erfahrungen erzählt. Die Auswertung hat gezeigt: Ungefähr die Hälfte hat schon mal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren, zum Beispiel in der Kabine oder bei Aufenthalten zwischen zwei Flügen. Das beginnt bei sexistischen Sprüchen bis hin zu ungewollten Berührungen. Außerdem möchte ich betonen: Unserer Umfrage zufolge erfahren Männer fast genauso oft sexuelle Belästigung an Bord wie Frauen.
SPIEGEL ONLINE: Die Umfrage war auf der UFO-Website öffentlich zugänglich, jeder konnte sich daran beteiligen. Wie valide sind die Ergebnisse?
Gaßner: Wir haben auf die Umfrage fast ausschließlich über die Kanäle unseres Verbandes aufmerksam gemacht, also zum Beispiel über unsere Webseite. Von daher gehe ich davon aus, dass tatsächlich nur Mitglieder mitgemacht haben, sicher kann ich das aber nicht sagen. Allerdings decken sich unsere Ergebnisse mit Umfragen aus Australien und den USA und Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen.
SPIEGEL ONLINE: Betroffene können sich auch an Sie wenden, wenn sie Unterstützung oder rechtlichen Beistand brauchen.
Gaßner: Das ist richtig. Momentan sind mir fünf Fälle von sexueller Belästigung bekannt, es geht um unerwünschte Berührungen, Stalking und sexistische Sprüche. Erschreckenderweise waren in allen fünf Fällen, die mir bekannt sind, Vorgesetze dafür verantwortlich. Das deckt sich auch mit den Ergebnissen unserer Umfrage, in der 45 Prozent von sexueller Belästigung durch den Chef oder die Chefin erfolgt sind. Bei jeweils etwa einem Viertel waren es gleichrangige Crewmitglieder beziehungsweise Passagiere. Letztere sind meiner persönlichen Erfahrung nach eher mal unhöflich, als dass sie Grenzen überschreiten.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben selbst vier Jahre als Flugbegleiterin gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie mit sexueller Belästigung durch Vorgesetzte gemacht?
Gaßner: Sowohl aus eigener Erfahrung als auch von Kolleginnen und Kollegen aus Arbeitsgruppen weiß ich: Es ist leider kein Einzelfall, dass Machtgefälle von Vorgesetzten ausgenutzt werden. Das kann zum Beispiel der Kabinenverantwortliche sein, der einem über den Nacken streicht, wenn man in der Start- und Landephase nicht wegkann. Bei einem Zwischenstopp hat mir mal ein Kapitän gesagt: "Na, wir beide gehen jetzt aber schon noch aufs Zimmer."
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie den Vorfall gemeldet?
Gaßner: Nein. Das war im Jahr 2006, mein erster Langstreckenflug. Zum einen war ich unsicher, weil das ein neues Arbeitsumfeld war. Zum anderen hatte ich das Gefühl, ich könnte es sowieso niemandem sagen. Die Person, der ich mich eigentlich hätte anvertrauen sollen, war die, die mich sexuell belästigt hatte. Außerdem war mir nicht bekannt, dass es damals schon eine Stelle für sexuelle Belästigung gab, zu der ich sonst hätte gehen können. Ich denke, so geht es auch heute noch vielen Kolleginnen und Kollegen.
SPIEGEL ONLINE: Was können Betroffene tun?
Gaßner: Wenn man sich nicht an den direkten Vorgesetzten an Bord wenden kann, gibt es in den Betrieben in der Regel Vertrauenspersonen, Gleichstellungsbeauftragte oder Teamleiter. Wer diesen Schritt geht, ist allerdings darauf angewiesen, dass die Ansprechpartner auch handeln. Neulich habe ich aus einem kleineren Flugbetrieb erfahren, dass sieben Übergriffe durch eine einzige Person gemeldet wurden - erst bei der siebten Meldung wurde reagiert. Viele Betroffene, mit denen ich gesprochen habe, fühlen sich im Stich gelassen - und verlassen als Konsequenz dann selbst das Unternehmen. Das darf nicht sein.
SPIEGEL ONLINE: Ist das denn ein Problem einzelner Airlines?
Gaßner: Die Airlines veröffentlichen keine Zahlen, wie viele Fälle ihnen bekannt sind. Trotzdem kann ich aus Erfahrung sagen: Sexuelle Belästigung betrifft alle Flugbetriebe, allerdings gibt es Unterschiede in der Anzahl der Fälle - und wie sie in den Unternehmen behandelt werden. Von den fünf Fällen, die ich betreue und betreut habe, stammen zwei von einer Airline und drei von einer anderen. Meiner Meinung nach herrscht aber in der ganzen Branche dringend Handlungsbedarf.
SPIEGEL ONLINE: Was muss passieren?
Gaßner: Flugbetriebe können zum Beispiel dafür sorgen, dass Betroffene und Täter nicht mehr zusammen auf einem Flug geplant werden. Wenn ein Passagier übergriffig wird, kann die Airline ihn von Flügen ausschließen. Ab und zu höre ich von Linien, die das machen - allerdings viel zu selten.
SPIEGEL ONLINE: Am besten wäre es natürlich, wenn es erst gar nicht zu sexueller Belästigung kommt.
Gaßner: Idealerweise sollte jede Führungskraft eine Schulung durchlaufen, um zu lernen, wie man Betroffene angemessen unterstützen muss. Aber auch: Wo liegen persönliche Grenzen und wann überschreite ich die? Flugbegleiter müssen lernen, wie sie persönliche Grenzen formulieren und an wen sie sich bei Vorfällen wenden können. Konkrete Konsequenzen für die Täter müssen klar sein. Mir ist keine Airline bekannt, die Schulungen in diesem Umfang anbietet.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern hat die #MeToo-Debatte die Branche beeinflusst?
Gaßner: Danach wurde zwar nach außen stärker thematisiert, dass man sexuelle Übergriffe nicht länger akzeptiert. Mein Eindruck ist allerdings, dass viele Airlines solche Fälle als internes Problem betrachten. Sicherlich werden in den Betrieben Fälle von sexueller Belästigung festgehalten. Dass die nicht veröffentlicht werden, zeigt für mich, dass man das Thema nach außen hin lieber totschweigt.
SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielt es, dass Airlines nach wie vor von Mitarbeiterinnen fordern, Schuhe mit Absatz und Make-up zu tragen?
Gaßner: Wie Flugbegleiterinnen sich präsentieren müssen, ändert sich leider nur schleppend. In manchen Betrieben müssen alle Mitarbeiterinnen die gleichen Frisuren tragen: Lange Haare, Dutt und Hütchen - das wird dann als Firmenidentität verkauft. Auch mir wurde damals in meiner Ausbildung gesagt, dass ich mich stärker schminken solle - weil das Kabinenlicht ja so viel Farbe nehme. Ganz lange gab es auch Gewichtsvorgaben für Flugbegleiterinnen. Airlines schreiben das heute zwar nicht mehr in die Anforderungen, aber viele legen darauf nach wie vor Wert.
SPIEGEL ONLINE: Schicke Frisuren, enge Uniformen - woher kommt das Image der Flugbegleiterinnen?
Gaßner: Jahrzehntelang haben Flugbetriebe in Werbungen mit sexistischen Bildern bewusst gespielt: Vorne im Cockpit sitzen zwei Herren, die von vier adretten Flugbegleiterinnen mit wallendem Haar flankiert werden. Slogans haben suggeriert, dass die Kolleginnen den Passagieren jeden Wunsch von den Augen ablesen. Viele vergessen: In erster Linie sind Flugbegleiter für die Sicherheit an Bord verantwortlich. In ihrer Ausbildung haben sie gelernt, ein Flugzeug innerhalb von eineinhalb Minuten zu evakuieren. Wenn nichts passiert, können sie Getränke servieren - aber es ist nicht ihre Hauptaufgabe.