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Politik in der Provinz "Bürgermeister zu sein, dafür gibt es kein YouTube-Video"

Als Klaus Besser, 60, Bürgermeister von Steinhagen wurde, war Sarah Süß zwei Jahre alt. Nun wird sie mit 28 seine Nachfolgerin. Wie ist es, wenn Generationen wechseln?
Ein Interview von Florian Gontek, Steinhagen
Klaus Besser und Sarah Süß: "Es gibt wichtigere Argumente als das Alter"

Klaus Besser und Sarah Süß: "Es gibt wichtigere Argumente als das Alter" 

Foto: Felix Hüffelmann

Es regnet an diesem Mittwochnachmittag Anfang Oktober, als Sarah Süß ins Rathaus spurtet, um nicht nur pünktlich, sondern auch halbwegs trocken zum Gespräch zu erscheinen. In den vergangenen Monaten ging Vieles sehr schnell im Leben der 28-Jährigen: Ab dem 01. November steht sie als eine der jüngsten amtierenden Bürgermeisterinnen des Landes der 20.000-Einwohner-Gemeinde Steinhagen vor, zehn Kilometer von Bielefeld gelegen, und wird Chefin von etwa 230 Mitarbeitenden. Mit 61,38 Prozent gewann sie die Stichwahl gegen ihren im Ort verwurzelten CDU-Konkurrenten Hans-Heino Bante-Ortega. Dabei lebt sie erst seit vier Jahren in Steinhagen. Der Triumph von Süß bedeutet auch den Abgang von Klaus Besser, 60, der 26 Jahre Bürgermeister von Steinhagen war. Wie fühlt es sich an, wenn in der Provinz eine andere Generation übernimmt? Ein Doppelinterview in Klaus Bessers Büro, das schon bald Sarah Süß gehört.

SPIEGEL: Frau Süß, hier im Büro von Herrn Besser gibt es vor allem eines: Holz. Im Regal stehen mehr als 70 Igel, sein Lieblingstier. Kann man sich als 28-Jährige hier überhaupt wohlfühlen?

Süß: Das Büro will ich schon ein wenig anders einrichten. Ein höhenverstellbarer Schreibtisch kommt auf jeden Fall rein. Ein bisschen moderner soll es werden. Und zu den Igeln: Die meisten davon nimmt Klaus ja mit.

Zur Person
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Felix Hüffelmann

Sarah Süß, Jahrgang 1992, geboren in Hamm am Rande des Ruhrgebiets, wo sie auch aufwuchs. In Steinhagen lebt die Fachhochschuljuristin, die bislang am Amtsgericht in der Nachbargemeinde Halle/Westfalen arbeitete, seit 2015 gemeinsam mit ihrem Ehemann. Süß engagierte sich zunächst als sachkundige Bürgerin im Ausschuss für Generationen, Arbeit, Soziales und Integration sowie später auch im Ordnungs- und Umweltausschuss. Seit 01. November vergangenen Jahres ist Süß Gemeindeoberhaupt von Steinhagen. Sie ist dort die erste Frau in diesem Amt und eine der jüngsten Bürgermeisterinnen des Landes.

Besser: Einen Igel habe ich Sarah als Glücksbringer für die Stichwahl geschenkt, es ist ein ganz besonderer. Er kommt aus der Spielzeug-Manufaktur in Bad Kösen. Und dort, wo jetzt ein Gemälde von mir hängt, ich habe es mal von Steinhagener Künstlerinnen geschenkt bekommen, hängt bald ein digitales Whiteboard. Ein bisschen moderner wird es also auf jeden Fall.

SPIEGEL: Herr Besser, Sie sind damals selbst jung Bürgermeister geworden, waren 34. Ihr Vorgänger war mehr als eine Dekade im Amt. Wie sind Ihnen Ihre ersten Tage in Erinnerung?

Besser: Ich begann als Ehrenamtler: 1994 war der Bürgermeister ein reiner Repräsentant der Gemeinde und der Gemeindedirektor kümmerte sich um die Verwaltung. Es war also kaum vergleichbar mit dem Übergang, den Sarah jetzt hat. Damals wurden viele Dinge im stillen Kämmerlein entschieden. Ich wollte das transparenter machen. Ich war in Steinhagen der erste sozialdemokratische Bürgermeister seit 1962, wollte kooperativer sein als meine Vorgänger. Das hat ein bisschen gedauert.

SPIEGEL: Machen Ihnen Herr Bessers Fußstapfen ein bisschen Angst, Frau Süß?

Süß: Nein, weil es nicht mein Anspruch ist, sie zu füllen. Klaus ist für mich in vielen Dingen ein Vorbild, er hat bei den Menschen in Steinhagen ein unglaubliches Standing. Vor allem, weil er ihnen das Gefühl gibt, gehört zu werden und immer da zu sein.

SPIEGEL: Was ist Ihnen als Bürgermeisterin noch wichtig, Frau Süß?

Süß: Corona müssen wir meistern, bei der Nutzung unseres Gewerbegebiets weiterkommen. Klimaschutz wird für die nächsten Jahrzehnte ein Thema sein. Auch Wohnraum ist ein großes Problem: Menschen müssen bezahlbar wohnen können - gleichsam müssen wir Flächen sparen. Viele Menschen kamen aber auch schon zu mir und meinten: Schau, dass alles auch ein bisschen so bleibt.

SPIEGEL: Wie lange habe Sie darüber nachgedacht, ob Sie Bürgermeisterin von Steinhagen werden wollen?

Süß: Zwei Wochen, ich bin noch mal kurz in den Urlaub gefahren.

SPIEGEL: Welche Fragen haben Sie sich gestellt?

Süß: Vor allem die, wie sich der Alltag verändert. Darüber habe ich mit meinem Partner in Ruhe nachgedacht. Für so etwas brauche ich Ruhe, das kann ich nicht von heute auf morgen.

SPIEGEL: Wie verändert das Amt des Bürgermeisters den eigenen Alltag denn, Herr Besser?

Besser: Man ist plötzlich eine öffentliche Person. Man kann nicht mehr einfach in die Eisdiele gehen und die Lieblingssorte bestellen. Die Bürger schauen dann: Was bestellt der für ein Eis? Wie verhält er sich und mit wem plauscht er? Kann man den oder die auch beim Einkaufen ansprechen? Das sind Fragen, die dann in den Köpfen der Bürger sind.

SPIEGEL: Über Sie, Herr Besser, weiß man, dass Sie zum Einkaufen nie in andere Gemeinden ausgewichen sind.

Besser: Stimmt. Ich war gern in Steinhagen einkaufen und hatte immer Zettel und Stift dabei, um alles zu notieren, was mir auffällt. Ich war auch ohne Sprechstunde erreichbar.

"Als ich mein Auto verkauft hatte, habe ich dem Käufer gesagt: Die ersten Wochen musst Du immer schön zurückgrüßen."

Klaus Besser

SPIEGEL: Sie bald auch, Frau Süß?

Süß: Seit ein paar Wochen ist es schon so, dass ich häufiger angesprochen werde. Manchmal denke ich auch: Puh, das dauert mir jetzt gerade ein bisschen zu lange. Kurz vor der Wahl wollte ich einmal nur drei Sachen besorgen; auf einmal sammelten sich acht Menschen um mich herum und es hat eineinhalb Stunden gedauert. Am Ende überwiegt trotzdem das gute Gefühl - ich will ja bewusst Kontakt zu den Menschen haben.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass Frau Süß das in zwei Jahren auch noch sagen wird, Herr Besser?

Besser: Ich glaube schon (lacht), sie hat versprochen, dass es ihr darum geht, den Menschen in der Gemeinde nahe zu sein. Das ist in einer Gemeinde unserer Größe auch gar nicht anders machbar. Als ich mein Auto verkauft hatte, habe ich dem Käufer gesagt: Die ersten Wochen musst Du immer schön zurückgrüßen.

SPIEGEL: Sie haben beide Erfahrung in der Verwaltung. Wie wichtig ist das, um eine Gemeinde zu führen?

Besser: Wir haben hier im Rathaus gut 70 Mitarbeitende auf drei Hierarchieebenen: Bürgermeisterin, Amtsleitungen, Sachbearbeitung. Da ist es schon wichtig, dass die Chefin oder der Chef Ahnung von Verwaltung hat, weil man immer wieder konkret um Rat gefragt wird. Bürgermeister zu sein, dafür gibt es kein YouTube-Video.

Süß: Ich habe keine Führungserfahrung. Als Rechtspflegerin weiß ich aber, wie eine Behörde funktioniert und habe einen juristischen Hintergrund. Bürgermeisterin wird man beim Machen.  

SPIEGEL: Warum will man Bürgermeisterin werden, wenn man keine Führungserfahrung hat, Frau Süß?

Süß: Ich habe Steinhagen ein Jahr als Heidekönigin repräsentiert. Danach wollte ich mich hier auch politisch engagieren. Die SPD war für mich die einzige Option; Soziale Gerechtigkeit ist mir wichtig. Eingetreten bin ich erst hier in Steinhagen, obwohl ich im Ruhrgebiet geboren bin. Ich komme aus einer Bergbaufamilie, niemand ist politisch aktiv. In Steinhagen nahmen mich dann einige Ratsmitglieder einfach zu einer Sitzung mit und witzelten: Vielleicht brauchen wir irgendwann mal eine Bürgermeisterin. Ich war dann erst Sachkundige Bürgerin im Rat - irgendwann kam Klaus auf mich zu und fragte, ob ich kandidieren will.

SPIEGEL: Was hatten Sie sich dabei gedacht, Herr Besser?

Besser: Es gibt wichtigere Argumente als das Alter. Nach 26 Jahren überlässt man eine Gemeinde nicht einfach ihrem Schicksal - man macht sich Gedanken. Erst recht, wenn es junge und engagierte Menschen gibt, die Lust auf den Job haben. Wenn jemand an seinem Amt klebt, das kann ich nicht leiden.

"Du kannst das auch lange machen, sagten viele zu mir. Das schließt mit ein, dass ich jung bin - aber nicht zu jung."

Sarah Süß

SPIEGEL: Ist Wahlkampf anstrengend?

Besser: Also ich habe regelmäßig abgenommen.

Süß: Ich nicht, im Gegenteil.

SPIEGEL: Wie geht man mit diesem Stress um, Herr Besser?

Besser: Den muss man aushalten und einen Ausgleich finden. Man muss wissen, dass auch mal schlechte Tage kommen und Menschen unzufrieden mit den Entscheidungen sind, die man trifft. Ein Teil unserer Alimentation ist sicher auch Schmerzensgeld. 

Süß: Ich bin nervös, aber positiv. Heute ist meine erste Fraktionsvorsitzendenrunde. Ich habe richtig Lust auf die Dinge. Bei der Ruhe schneide ich mir von Klaus gern noch eine Scheibe ab.

SPIEGEL: Wo noch?

Süß: Als Bürgermeisterin wird niemand geboren. In einer stressigen Situation bin ich eher jemand, der noch einmal einen Schritt zurücktritt und überlegt.

Klaus Besser und Sarah Süß im Gespräch mit SPIEGEL-Redakteur Florian Gontek

Klaus Besser und Sarah Süß im Gespräch mit SPIEGEL-Redakteur Florian Gontek

Foto:

Felix Hüffelmann

SPIEGEL: Fragen Sie nach Kniffen, Frau Süß?

Süß: Klar, Fragen habe ich immer mal wieder. Klaus und ich hatten in den vergangenen Wochen schon einige gemeinsame Termine mit den Amtsleitungen, da war die Stimmung gut. Und ein wertschätzendes Miteinander ist auch wichtig, um zu schauen, wie man ein Team anpacken und leiten muss. Das kommt alles mit der Zeit, da mache ich mir keine Sorgen.

SPIEGEL: Was war Ihr Rezept, um den Laden zusammenzuhalten, Herr Besser?

Besser: Ich habe mit allen Fraktionen gesprochen. Jeder und jede muss das Gefühl haben, mit Fragen zum Bürgermeister kommen zu können - und zwar parteiübergreifend.

SPIEGEL: Nun haben Sie, Frau Süß, die AfD neu dabei, dazu "Die Partei” und die "Unabhängige Wählergemeinschaft”. Wie wollen Sie denen begegnen?

Süß:  Wie die AfD sich im Rat verhält, das kann ich noch nicht einschätzen. Ich hoffe, dass die demokratischen Parteien beieinanderstehen und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wir dürfen der AfD auch nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Insgesamt wird der Rat auch erheblich jünger, was gut ist.

Als Schülerin habe ich meinen Bürgermeister nie gesehen, das möchte ich anders machen.

Sarah Süß

SPIEGEL: Nun war Ihr Gegenkandidat, Hans-Heino Bante-Ortega (CDU), jemand, Frau Süß, der im Ort tief verwurzelt ist, den die Steinhagener seit Jahrzehnten kennen. Das gilt für Sie nicht. Warum haben Sie trotzdem gewonnen?

Süß: Das Argument "die kommt ja nicht von hier" kam mir oft entgegen. Dennoch spielt für viele Menschen auch die Kontinuität eine Rolle, die sie von Klaus kennen. Du kannst das auch lange machen, sagten viele zu mir. Das schließt mit ein, dass ich jung bin - aber nicht zu jung. Da war viel Neugier bei den Menschen, weniger Skepsis.

SPIEGEL: Was hat Frau Süß in Ihren Augen im Wahlkampf gut gemacht, Herr Besser?

Besser: Sie hat die Zeichen der Zeit erkannt und einen guten digitalen Wahlkampf über die Sozialen Netzwerke gemacht. Gerade in Zeiten von Corona kam ihr das natürlich sehr entgegen. Vor allem bei jüngeren Wählern.

SPIEGEL: Mit zwei Mitstreiterinnen haben Sie in Steinhagen, kurz nach dem Sie hergekommen sind, die Jusos gegründet. Bewegt haben sie seitdem kaum etwas.

Süß: Ja, das ist schwierig und lief sehr schleppend. Ich glaube nicht, dass die Jugend unpolitisch ist. Im Wahlkampf habe ich die Erfahrungen gemacht, dass sich viele junge Wähler und auch die, die noch nicht wählen dürfen, für die Politik hier vor Ort interessieren. Ich hoffe, dass ich etwas erwecken kann. Auch in den Schulen. Als Schülerin habe ich meinen Bürgermeister nie gesehen, das möchte ich anders machen. 

SPIEGEL: Was hoffen Sie, wie es Ihnen geht, wenn wir dieses Gespräch in einem Jahr noch einmal führen?

Besser: Hoffentlich gut. Ich bin gerade Großvater geworden, heute Abend sehe ich das erste Mal mein Enkelkind. Ich hatte in den vergangenen Jahren nie die Zeit, um unser Haus zu renovieren und mich ausgiebig um den Garten zu kümmern. Ansonsten möchte ich weiter Sport machen und am Leben in der Gemeinde teilnehmen.

Süß: Ich hoffe, dass ich gut angekommen bin. Dass der Kontakt zu den Mitarbeitern und Bürgern dann genauso eng ist, wie Klaus es hier beschrieben hat. In einem Jahr, da bin ich mir sehr sicher, werde ich denken, dass es genau die richtige Entscheidung war, Bürgermeisterin von Steinhagen zu sein.

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