Arbeit nach Corona "Eine rein digitale Welt wird auf Dauer nicht funktionieren"

Tischlerinnen bei der Arbeit: Wer ausschließlich digital schafft, hat es schwerer, Werkstolz zu entwickeln
Foto: Thomas Barwick / Digital Vision / Getty ImagesFrage: Herr Grünewald, welche Faktoren treiben die Veränderungen der Arbeitswelt am stärksten voran, mit welchen Effekten, welchen weiteren Folgen?
Grünewald: Die Anforderungen durch den Lockdown während der Covid-19-Pandemie haben den massiven Digitalisierungsschub, den wir seit Jahrzehnten erleben, weiter beschleunigt. Aktuell hat das zu viel mehr Homeoffice geführt. Heute bevorzugt die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Arbeiten zu Hause. Als Spätfolge werden wir weniger und kleinere Bürogebäude in den Städten sehen.
Frage: Was genau ändert sich in der Architektur der Büros?
Grünewald: Dort gibt es eine Aufteilung zwischen sogenannten Effizienzboxen, in die sich der einzelne Mitarbeiter zurückzieht, wenn er einen Arbeitsschritt selbst gestalten möchte oder soll, und Großräumen, die einen regen, unmittelbaren Austausch des Teams ermöglichen nach Vorbild der Newsrooms, die zuerst in Medien- und Kommunikationsunternehmen entstanden sind. Schließlich braucht man Kreativräume, die zum Beispiel mit Sofalandschaften ausgestattet sind, wo man mit Pinnwänden, Knetgummi und anderen ungewöhnlichen Mitteln arbeitet, um Denkräume zu überschreiten. Das stärkt dann auch die Gruppenidentität.
Frage: Ändert sich dadurch auch die Bedeutung der Arbeit für den Einzelnen?
Grünewald: Ja, in vielerlei Hinsicht. Dazu muss man die psychosozialen Sinnfaktoren von Arbeit kennen: Da wäre zunächst die soziale Eingebundenheit durch Arbeit, oft der wichtigste Kanal für gesellschaftliche Wertschätzung. Zudem strukturiert die Arbeit den Alltag jedes Einzelnen, letztlich die gesamte Lebensführung. Schließlich liefert sie Lebenssinn. Der entsteht, wenn der einzelne Mitarbeiter Unternehmensziele für sich erlebt und verinnerlicht.
Frage: Das sind sicher strukturell wichtige Faktoren. Wie aber fühlt sich das Arbeiten in der Zukunft an?
Grünewald: Arbeit soll ursprünglich zu Meisterschaft führen und in der Folge Werkstolz verschaffen. Etwa wie bei einem Tischler, der nach seinem Tagwerk die Fortschritte an seinem konstruierten Möbelstück sieht – und Stolz empfindet über seine Leistung. In der digitalen Welt wird oft an abstrakten Objekten gearbeitet, da stellt sich dieser Stolz nicht so direkt ein. Hier haben wir oft das Gefühl, viel gemacht, aber wenig erreicht, nichts Ganzes entwickelt zu haben. Der Werkstolz wird dann durch einen Erschöpfungsstolz ersetzt. Man ist stolz auf den Grad der Erschöpfung, den man sich am Tag erarbeitet hat. Erschöpfung wird dann zum Gradmesser für die Produktivität.
Frage: Das klingt auf Dauer ungesund.
Grünewald: Richtig. Wir brauchen deshalb künftig Belobigungsrituale, die diesen Erschöpfungsstolz beim digitalen Arbeiten durch neue Formen des Werkstolzes ersetzen können.
Frage: Welche weiteren psychosozialen Sinnfaktoren sind für das Arbeiten wichtig?
Grünewald: Da wäre zunächst die Karriereperspektive: Durch Erfolg bei der Arbeit komme ich sozial nach oben. Und schließlich zwingt das Arbeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Wir müssen uns ständig fortbilden, müssen Neues hinzulernen, uns verändern in unserem sozialen Umfeld.
Frage: Welche Rolle spielt künftig die soziale Absicherung durch Arbeit?
Grünewald: Die Sozialversicherungen, an denen sich auch die Arbeitgeber beteiligen, müssen erhalten bleiben, wenn auch in veränderter Form. Etwa durch "Maschinensteuern", die fällig werden, wenn künstliche Intelligenz Wertschöpfung leistet. KI braucht keine soziale Absicherung, wohl aber die Menschen im Umfeld dieser Wertschöpfung. Durch ihren Anteil an den Sozialversicherungen und durch die Erfüllung der psychosozialen Faktoren fungieren die Unternehmen als sozialer Kitt – ähnlich wie die Familien. Wenn wir diesen Effekt nicht stabilisieren, fliegt uns unsere Gesellschaft um die Ohren.
Frage: Kann dieser Zusammenhalt in einer immer weiter digitalisierten Welt gelingen?
Grünewald: Eine rein digitale Welt wird auf Dauer nicht funktionieren. Beim Arbeiten nimmt nicht nur das Tempo stetig zu, wir sehen auch eine immer weitergehende Segmentierung und Fragmentierung. Übergänge zwischen verschiedenen Gewerken, Qualifikationen und Kompetenzen verflüssigen sich. Der einzelne Mensch muss aufpassen, dass er dabei nicht ertrinkt. Den Unternehmen kommt dann die Aufgabe zu, dass sich ihre Beschäftigten beim Arbeiten wieder ganzheitlich erleben können. Dies gelingt durch ritualisierte Zusammenkünfte auf der Arbeit, etwa durch Projektpräsentationen, aber auch durch gemeinsame Mittagessen.
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Antonia Götsch, Chefredakteurin des Harvard Business managers, teilt Wissen aus den besten Managementhochschulen der Welt und ihre eigenen Erfahrungen mit Ihnen. Einmal die Woche direkt in Ihr E-Mail-Postfach.
Frage: Welche Rolle kommt den Führungskräften bei diesen Zusammenkünften zu?
Grünewald: Der einzelne Arbeitnehmer erhält und übernimmt künftig viel mehr Verantwortung. Die Führungskraft muss deshalb als Sinngeber und Motivator auftreten, die gemeinsame unternehmerische Mission verkörpern, für Korpsgeist sorgen, aber auch aktiv die Ansprache suchen.
Dieser Artikel erschien in der September-Ausgabe 2020 des Harvard Business manager.