Studienabbrecher "Ich und Jura, wir haben uns auseinandergelebt"

Im Motivationsloch: Das Studium kann soooo müde machen...
Foto: CorbisDer Seminarraum der Arbeitsagentur in Münster füllt sich mit Zweifeln. Sehr großen Zweifeln. "Ist Recht wirklich gerecht?", fragt der 21-jährige Jurastudent. "Solche Dinge würden mich interessieren. Diese ganzen grundlegenden Sachen." Seine Stimme klingt matt, resigniert. "Wir lernen nur Paragrafen anzuwenden. Je spezieller das wird, desto mehr merke ich, dass mir diese ganze Arbeitsweise nicht gefällt."
Paul Stallmeister hört sich all die Zweifel an: am Fach, am Studiensystem, an der Zukunft. Mit dem Bleistift macht er ein paar Notizen auf einem weißen Blatt. Stallmeister kennt solche Fälle. Als Berufsberater bei der Arbeitsagentur bietet er regelmäßig Seminare für Studienabbrecher an. Wenn Studenten an der Uni fremdeln, wenn sie eine neue Perspektive brauchen, kommen sie in Stallmeisters Seminar.
Die Geschichte des Jurastudenten mit den blonden Locken und der schwarzen Brille ist ziemlich typisch für Studienabbrecher. Das Abi war für ihn kein Problem, die Wahl des richtigen Fachs an der Uni dafür umso schwieriger.
"Ich bin ein Allrounder", sagt der Student. "Ich kann nicht sagen, was meine Stärken sind." Alle Wege schienen irgendwie offen, aber nirgends gab es einen Wegweiser, nichts Vorgezeichnetes.

Abbruch, Aufbruch, Durchbruch: 100 prominente Uni-Deserteure
An der Uni Münster hat er sich schließlich für Jura eingeschrieben, ein bisschen aus einem vermuteten, diffusen Interesse am Fach, ein bisschen aus Vernunft. Das erste Semester ist er locker angegangen, hat sich umgesehen, gefeiert, Leute kennengelernt. Im dritten Semester war er dann gar nicht mehr im Hörsaal.
"Wenn ich ein berufliches Ziel hätte, wäre es vielleicht einfacher, sich da durchzubeißen", sagt der Student.
"Haben Sie mal ein Praktikum gemacht?", fragt Stallmeister.
"In einem Kindergarten."
"Und im juristischen Feld?"
Er schüttelt den Kopf.
Stallmeister legt den Bleistift aufs Blatt, resümiert. "Sie haben de facto mit dem Studium abgeschlossen?"
"Ich und Jura, wir haben uns auseinandergelebt."
Rund 21 Prozent aller Studienanfänger in Deutschland verlassen die Hochschule ohne einen Abschluss. Bei knapp einem Drittel von ihnen sind nichtbestandene Prüfungen und zu hohe Anforderungen der Hauptgrund für den Abbruch, das sagen die neuesten Zahlen des Hochschul-Informations-Systems (HIS). Die Hannoveraner Hochschulforscher beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit Studienabbrechern.
Wo ist der Sinn hinter allen den Klausuren und Bücherbergen?
Ihre jüngste Studie zeigt, dass die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge zu starken Verschiebungen geführt hat: Die Geisteswissenschaften profitieren vom neuen System; offenbar hat das neue System den Studenten mehr Struktur und ein Ende des entmutigenden Einzelkämpfertums gebracht. Dagegen sind die Abbruchquoten bei Ingenieur- und Naturwissenschaftlern nach oben geschnellt - sie ächzen unter gestiegenem Prüfungsstress.
Es ist eine durchwachsene Bologna-Bilanz. Beim Entschluss zum Studienabbruch mischen sich meist mehrere Gründe, es sind nicht allein Leistungsanforderungen und das Scheitern bei Prüfungen. Viele Abbrecher haben zum Beispiel Geldsorgen oder sind unzufrieden mit den Studienbedingungen.
Eine wichtige Rolle spielt, ob das Studium Orientierung bietet, ob Professoren vermitteln können, dass das Uni-Wissen für den Beruf wertvoll ist. Ob Sinn und Ziel erkennbar werden hinter all den Tutorien, Examensklausuren und Bücherbergen. Laut HIS-Studie werfen 18 Prozent der Abbrecher vor allem deshalb hin, weil ihnen die Motivation verlorengegangen ist.

Volldemütigend: Juristen im Würgegriff der Noten
So war es bei einer Politikstudentin, die zum Abbrecher-Workshop der Arbeitsagentur gekommen ist. Die Leidenschaft fürs Fach schwand, nach einem Praktikum in einem Entwicklungsprojekt in Ghana kamen Zweifel am Berufswunsch hinzu. "Die Leute ziehen alle paar Jahre mit ihrem Container weiter", sagt sie. "So will ich nicht leben." "Gibt es ein alternatives Ziel?", fragt Stallmeister. Die Studentin senkt den Blick. "Kein definitives."
"Ich will irgendwann mal ankommen"
Stallmeister will es systematisch angehen. Er legt ein Blatt Papier in die Mitte des Tisches und malt einen Kreis darauf, den er dreiteilt: Interessen, Fähigkeiten, gewünschte Arbeitsbedingungen. "Bei Ihnen hat es vielleicht mit dem Interesse gestimmt", erklärt Stallmeister der Politikstudentin und tippt mit dem Bleistift in das Tortenstück. "Aber die Arbeitsbedingungen spielen eben auch eine Rolle." Ein Punkt, über den sich viele Studenten in den ersten Semestern noch keine Gedanken machen.
Alte Ziele zerschlagen sich, neue kommen nicht in Sicht - für manche ist das der Beginn einer langen Odyssee durch die Bildungsinstitutionen. Und die Verzweiflung wächst mit jeder weiteren Etappe, die keine Klarheit bringt. Der Student mit den schwarzen Koteletten und dem grün-karierten Hemd hat bereits einige hinter sich.
Erst eine Ausbildung in der Systemgastronomie.
Dann eine Weile jobben im Ausland.
Dann studieren, Kommunikationswissenschaften, Psychologie und Soziologie.
Dann ein Fachwechsel zu Religion und Ökotrophologie auf Lehramt.
Und jetzt, mit 30 Jahren, sitzt er bei Paul Stallmeister. "Ich kann doch nicht ewig dieses Studentenleben führen", sagt er. "Ich will irgendwann mal ankommen."
Die Ahnung, auch diesmal nicht anzukommen, schlich sich während des Pflichtpraktikums in der Berufsschule ein. "Das ist mehr wie Krieg da", berichtet er. "Die brauchen keine Lehrer, die brauchen Sozialarbeiter. In solchen Klassen will ich nicht Religion unterrichten. Ich könnte mich nicht durchsetzen." "Was hat Sie zu dem Studium bewogen?", fragt Stallmeister. "Reine Vernunft", sagt der Student. "Ökotrophologie passt zu meiner Ausbildung, und Religion wird gerade gesucht."
Lange Odyssee an der Uni
Stallmeister fragt den Seminarteilnehmer, ob er nicht an die Gastronomie-Ausbildung anknüpfen könnte, und weist auf das Blatt in der Tischmitte. Interessen, Fähigkeiten, Arbeitsbedingungen - wie würde er das beantworten? Der Student murmelt etwas von aufzehrenden Arbeitsbedingungen in der Gastronomie, da wolle er nicht wieder hin, dann vielleicht eher Qualitätsmanagement, Kontrolleur im Restaurant.

Studienabbruch: Der Druck im Kessel steigt
Stallmeister wird hellhörig, hakt nach. "Haben Sie sich das mal genauer überlegt?" "Wenn ich im Restaurant bin und sehe, dass die Kellner schmutzige Fingernägel haben, bekommen sie kein Trinkgeld mehr von mir." "Das ist doch gut", sagt Stallmeister, er tippt auf das Blatt. Interesse ist da. Die Stimme des Studenten hebt sich. "Ja, es macht mir Spaß, solche miesen Sachen aufzudecken", sagt er. "Aber dafür brauche ich wohl erst ein Studium."
"Meinen Sie!", unterbricht Stallmeister, "führen Sie erst einmal ein Gespräch mit jemandem, der das macht." Der Student zögert. "Das sind doch Leute, mit denen Sie auf einer Wellenlänge sind", so Stallmeister. "Ja, richtige Pedanten teilweise", sagt der Noch-Lehramtsstudent, verschränkt die Arme und lacht. Stallmeister: "Das ist doch eine gute Basis."
Manchmal bewahrt schon ein kleines Gespräch unter Pedanten vor der nächsten langen Odyssee an der Uni.
Bernd Kramer ist freier Journalist in Köln. Sein Text erschien zuerst im UniSPIEGEL-Ressort auf SPIEGEL ONLINE.