Blinder Journalist Ich kann alles außer Fotos

Thorsten Schweinhardt in der "FAZ"-Redaktion: Er ist von Geburt an blind
Foto: Maximilian KalkhofThorsten Schweinhardt, 29, sitzt mit Kopfhörern in der Oper. Er soll einen Artikel über die "Fledermaus"-Aufführung für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreiben. Die besondere Herausforderung: Schweinhardt ist blind.
Über Kopfhörer beschreibt ihm eine Frauenstimme, was auf der Bühne passiert, wenn gerade niemand singt. "Barrierefreie Aufführung" nennt die Frankfurter Oper das. Danach will der Nachwuchsreporter andere Gäste fragen, wie ihnen das Stück gefallen hat. Seine persönliche Assistentin führt ihn ins Foyer, spricht Besucher an.
Schweinhardt zückt sein Aufnahmegerät. Er kann es mit einer Hand bedienen, die Menüpunkte liest das Gerät vor. Notizen macht er sich auf einem taschenbuchgroßen Organizer, den er mit Hilfe von acht Punkten, der Braillezeile, bedient.
Zurück in der Redaktion klickt sich Schweinhardt mit Shortcuts durchs Schnittprogramm für die Audioaufnahme und tippt seinen Text per Zehnfingersystem. Der Screenreader, ein Vorleseprogramm, liest ihm mit blecherner Stimme alles vor, was auf dem Bildschirm erscheint - und zwar erstaunlich schnell. Wie er folgen kann? "Reine Übungssache", sagt Schweinhardt.

Blinde Rechtsanwältin: Ich höre, wer lügt
Der Germanistikstudent ist seit seiner Geburt blind und will Journalist werden. Zwei Hörfunkpraktika hat er schon gemacht, dann die Hospitanz bei der "FAZ". Natürlich könne er nicht jede journalistische Aufgabe erfüllen, sagt Schweinhardt: "Eine Fotoausstellung ist für mich witzlos." Zuweilen sei es aber sogar von Vorteil, visuelle Eindrücke nicht in den Vordergrund stellen zu können: "Da muss man genauer denken."
Ohne technische und menschliche Hilfe wären Studium und Arbeit für Schweinhardt nicht denkbar . Wenn seine Assistentinnen zu einem Termin beide keine Zeit hätten, komme er in die Klemme: "Deswegen ist Organisation das A und O."
Hilfsmittel für mehr als 5000 Euro
Die Kosten für die Assistentinnen, die Schweinhardt über das Studentenwerk der Frankfurter Uni fand, übernimmt das Integrationsamt - nach einigem Hin und Her. Die Station bei der Zeitung ist kein Pflichtpraktikum. "Aber ohne Praktika habe ich keine Chance, in den Journalismus zu kommen", so Schweinhardt. "Und ohne Assistenz kann ich meine Fähigkeiten als Reporter nicht voll zur Geltung bringen."
Das Vorleseprogramm und den Organizer, die zusammen mehr als 5000 Euro kosten, zahlt die Krankenkasse. Auch einen Scanner hat Schweinhardt in die Redaktion mitgebracht. Jeden Text für den Screenreader muss er erst einscannen.
Von solchen Hilfsmitteln konnte Keyvan Dahesch, 71, nur träumen: "Hätte es die heutige Technik zu meiner Zeit schon gegeben, wäre ich hauptberuflich Journalist geworden." Auch Dahesch ist von Geburt an blind. Mit 17 kam er aus Iran nach Deutschland, er wurde Pressesprecher im Hessischen Landesamt für Versorgung und Soziales. Nach Feierabend schrieb er für die "Frankfurter Rundschau" und die "Zeit", sprach Radiobeiträge für den "Hessischen Rundfunk" und den "Deutschlandfunk".
Beschwerlich war's. Gedruckte Texte musste man ihm vorlesen; war er unsicher, ob er sich auf der Schreibmaschine vertippt hatte, setzte er ein Leerzeichen und begann von vorn. Als Dahesch sich Anfang der achtziger Jahre bei einigen Zeitungen bewarb, kassierte er reihenweise Absagen: "Alle redeten sich irgendwie raus. Das hat mich schon ein bisschen traurig gemacht."
"Hohes Risiko, leer auszugehen"
Die Chancen in den Medien stehen für Blinde nicht gut. "Es gibt viel zu viele Journalismus-Anwärter", sagt Eva Werner vom Deutschen Journalisten-Verband. "Mit einer körperlichen Beeinträchtigung ist das Risiko, leer auszugehen, noch höher."
Zur Erwerbstätigkeit blinder Menschen gibt es keine Statistik, weder vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf noch vom Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Auch im Mikrozensus werden sie nicht erfasst. "Derzeit können wir nur feststellen, dass die Beschäftigungsrate blinder Menschen konstant schlecht ist", sagt Andreas Bethke vom DBSV. "Daran ändert auch die Schwerbehindertenquote nichts."
Theoretisch sind alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitnehmern verpflichtet, fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen. In der Praxis aber, so Bethke, kauften sich viele Firmen mit Ausgleichsabgaben davon frei.
Thorsten Schweinhardt lässt sich nicht abschrecken: "Ich will auf jeden Fall in den Journalismus!" Als freier Producer beim Hessischen Rundfunk schneidet er zweimal monatlich Radiosendungen und pflegt sie in den Sendeplan ein. Nächstes Jahr will er sich für ein Volontariat bewerben, langfristig hofft er auf eine Festanstellung.
Nachrichten, Reportagen, Kommentare, Rezensionen - er könne das gesamte journalistische Spektrum abdecken, sagt Schweinhardt. Bisweilen muss er Kollegen erst überzeugen: "Weil sich manche nicht vorstellen können, wie ich arbeite, kam es schon vor, dass sie beim Verteilen von Arbeit gar nicht an mich dachten."

KarriereSPIEGEL-Autor Maximilian Kalkhof ist freier Journalist und besucht derzeit die Evangelische Journalistenschule in Berlin. Er lebte sechs Jahre in Taiwan und China und gewann 2008 den chinesischen Sprachwettbewerb "Wenn ich Präsident Taiwans wäre".