Wenn das Unternehmen den Wohnort bestimmen will »Firmen reduzieren Familie zum Beiwerk«

Ab in (Papas) neues Büro (Symbolbild): Vor allem Familienunternehmen legen oft Wert auf Manager mit Familie
Foto: Adie Bush / DEEPOL / plainpictureKatja Maurer*, 44, möchte kein Mitbringsel sein. Kein Stichpunkt im Lebenslauf, keine Kompetenz, die ihr Mann Christian, 47, in seinen neuen Job einbringt. Sie hat schließlich ein eigenes Leben. Klar, mit ihrem Mann zusammen. Aber bloß, weil er den Job wechselt, heißt das nicht, dass die ganze Familie neu startet – und Christian, Katja und die gemeinsame Tochter Anna, 12, alle Leinen kappen, ihr Zuhause aufgeben und umziehen, um an einem fremden Ort von vorne anzufangen. »Dass man das im Jahr 2020 überhaupt noch jemandem erklären muss«, sagt Katja und schüttelt den Kopf.
Im Pandemieherbst dieses Jahres arbeiten viele Bürokräfte nicht mehr in der Firmenzentrale. Homeoffice, Mobile Office – die geografische Nähe zum Arbeitgeber spielt keine große Rolle.
Es sei denn, es geht um eine Managementposition, so wie bei Christian Maurer. Er war bisher in der Geschäftsführung eines mittelständischen Unternehmens für die Finanzen zuständig. Nach einer Umbesetzung an der Unternehmensspitze sucht er seit rund einem Jahr einen neuen Job, möglichst mit ähnlichem Zuschnitt, Jahresgehalt 160.000 bis 180.000 Euro.
»Die Gespräche mit Headhuntern laufen gut, bis sie zu dem Punkt gelangen, wo es um den Wohnsitz geht«, sagt Katja. »Wenn Christian sagt, dass er nicht die ganze Familie verpflanzen will, sondern ihm eine Mischung aus Pendeln und Homeoffice vorschwebt, heißt es: ›Dann stelle ich Sie dem Unternehmen gar nicht erst vor.‹«
Wer hier arbeitet, soll auch hier wohnen
Und Christian ist kein Einzelfall: Während Konzerne von New Work sprechen, virtuelle Meetings zum neuen Standard machen und CEOs wie Kasper Rorsted selbstverständlich zwischen der Adidas-Zentrale in Herzogenaurach und der Familie in München pendeln, sieht es in weiten Teilen des deutschen Mittelstands anders aus. Hier gilt in vielen Firmen noch immer die sogenannte »Residenzpflicht«. Frei nach dem Motto: Wer hier arbeitet, soll auch hier wohnen. Mit Mann und Maus.
Christine Stimpel, Partnerin bei der internationalen Personalberatung Heidrick & Struggles, kennt das von ihrer Kundschaft: »Die deutschen Familienunternehmen erwarten einen Umzug, und auch die internationalen Klienten erwarten Anwesenheit vor Ort, möglichst mit Familie.« Viele verstehen das wohl als Ausdruck der Identifikation mit dem Unternehmen. Bei den Bewerbern stoße das zunehmend auf Unverständnis, so Stimpel: »Die Kandidaten erwarten mehr Flexibilität von den Unternehmen, die existiert aber nicht.«
Auch Familie Maurer versteht das nicht. Zumal sie zehn Jahre lang erlebt hat, dass es auch anders geht: Die Familie hat ihren Hauptwohnsitz in einer schwäbischen Kleinstadt, unter der Woche war Christian in seiner Zweitwohnung am Firmensitz in Oberfranken. Dazwischen liegen gut 300 Kilometer und dreieinhalb Stunden Autofahrt.
»Ja, die Pendelei ist manchmal anstrengend, und es war nicht immer toll, meinen Mann nur an den Wochenenden zu Hause zu haben«, sagt Katja Maurer. Aber sie hatten sich damit gut eingerichtet: Die schwäbische Kleinstadt ist ihr gemeinsames Zuhause. Sie haben ein Haus am Hang mit traumhaftem Blick über Felder und Wald gekauft und saniert, pflegen langjährige Freundschaften, Katja arbeitete im Betrieb ihres Vaters, Tochter Anna ging dort in den Kindergarten und jetzt zur Schule. Die Großeltern halfen aus, wenn sich mal niemand um die Kleine kümmern konnte; inzwischen brauchen sie selbst oft Hilfe, da ist es gut, wenn Katja schnell bei ihnen sein kann. Und in einer Zeit, in der Katja große gesundheitliche Probleme hatte, konnte sie zu den Ärzten gehen, die sie und ihre Vorgeschichte schon kannten.
»Diese doppelte Haushaltsführung war nie ein Problem für Christians Firma«, sagt Katja. Im Gegenteil: Dadurch, dass die Familie während der Woche weit weg war, galt die Aufmerksamkeit des Mannes ganz dem Job. Warum pünktlich Feierabend machen, wenn eh niemand zu Hause wartet? Elternsprechtag? Krankes Kind? Fand alles 300 Kilometer entfernt statt. »Wenn Anna mal vorzeitig aus der Kita geholt werden musste war ja klar, dass ich zuständig bin«, sagt Katja.
»Rein juristisch ist eine Residenzpflicht meist völlig unmöglich«, sagt Sonja Riedemann, Expertin für Vorstandsverträge bei der Anwaltskanzlei Osborne Clarke in Köln. »Das deutsche Arbeitsrecht verbietet das bis auf seltene Ausnahmen.« Dazu gehören etwa Hausmeister. Auch Notare müssen in der Nähe der Kanzlei leben, ebenso bis 2012 die niedergelassenen Ärzte, um in Notfällen schnell vor Ort zu sein; inzwischen genügt die Präsenz in den Sprechstunden.
Bei der Hälfte von Christians Jobofferten war Familiennachzug gewünscht
Aber Manager? »Es gibt tatsächlich eine ganze Reihe Aufgaben, die man als Geschäftsführer vor Ort erledigen muss, etwa Vertragsunterzeichnungen oder Kontoanweisungen«, so Riedemann. Doch daraus lässt sich nicht ableiten, dass jemand in der Nähe seinen Hauptwohnsitz mitsamt der Familie einrichten müsste. Wer zu den vereinbarten Zeiten fit zur Arbeit erscheint, kommt seiner vertraglichen Pflicht nach – der Rest ist Privatsache.
Tatsächlich findet man entsprechende Klauseln nur noch sehr selten in moderneren Vorstandsverträgen, so Riedemanns Erfahrung: »Die Unternehmen wissen ja, dass sie das nicht dürfen.« In der Praxis kann das trotzdem eine Rolle spielen: »Solange ein Kandidat nicht nachweisen kann, dass er deswegen abgelehnt wurde, kann er nicht gegen so einen Rechtsverstoß vorgehen.« Auf der anderen Seite heißt das auch: »Wenn Sie im Vorstellungsgespräch nach einem Familienumzug gefragt werden, müssen Sie darauf keine ehrliche Antwort geben.« Allerdings dürften die Firmenpatriarchen bei dem Thema genau hinschauen, spätestens wenn das Ende der Probezeit naht, darauf muss man sich einstellen.
Folgerichtig gibt es keine belastbaren Zahlen darüber, wie oft die Residenzpflicht tatsächlich eine Rolle spielt. In Christian Maurers Fall war das bei der Hälfte der Jobangebote so, also bei einem Dutzend. Teils wurde schon in der Stellenausschreibung angedeutet, dass ein Leben vor Ort erwünscht ist.
»Uns hat man gesagt, man fände es wichtig, wenn bei Firmenfeiern auch Frau und Kind dabei sein können«, sagt Katja Maurer. »Ich empfinde das als Diskriminierung: Man reduziert die Familie zum Beiwerk, zur Kulisse. Und fragt nicht einmal, ob die das gut finden.«
Der Residenzpflicht, findet sie, liegt ein überkommenes Familienbild zugrunde: Mann, Frau, Kind, Dach drüber. »Was ist mit Partnern, die beruflich selbst so eingebunden sind, dass sie nicht so einfach alles hinwerfen, um dem Gatten oder der Gattin zu folgen? Was ist mit Menschen, die Privates privat lassen wollen, zum Beispiel aus Angst vor Homophobie? Was mit Partnerschaften, die auf Distanz einfach besser funktionieren?«
Laut Headhunterin Stimpel geht es nicht nur um die Repräsentanz auf Firmenfesten – ein anderer Grund spielt eine große Rolle: »Führungskräfte, deren Familie an einem anderen Standort wohnt, neigen dazu, bei der erstbesten Gelegenheit abzuspringen und eine Offerte zu Hause anzunehmen.« Sie findet diese Sorge »nachvollziehbar«.
Residenzpflicht zeugt von wenig Vertrauen gegenüber dem Kandidaten
Vor Christians Job in Oberfranken waren die Maurers tatsächlich wegen der Arbeit nach Dortmund gezogen. Als er später zu seinem heutigen Arbeitgeber wechselte, spielte der Wunsch eine Rolle, wieder in die Heimat zurückzukehren. Allerdings: »Wir waren beide in all diesen Jahren mit Dortmund nicht warm geworden«, sagt Katja Maurer. Ob ein Manager länger bleibt, ist so also auch nicht sicher: Bekommt die Familie Heimweh und fühlt sich am neuen Ort nicht wohl, wird der Druck schnell groß, sich wieder umzuorientieren.
Anwältin Riedemann hat es vor gut zehn Jahren erlebt, dass ein Mandant, ein Firmenpatriarch, sie auf die Möglichkeit einer Residenzpflicht für seinen neuen Geschäftsführer ansprach: »Ich habe ihm erklärt, dass die Idee nicht nur gegen Gesetze verstößt, sondern auch von wenig Vertrauen gegenüber dem Kandidaten zeugt.« Am Ende überzeugte ihn, dass Verträge ohnehin nicht lebenslang gelten, sondern kündbar sind oder nur befristet: Mit diesem Risiko zieht sicherlich nicht sofort die gesamte Familie um, schon gar nicht mitten im Schuljahr – aber auch das Risiko für die Firma ist doch überschaubar.
Der neue Manager erwies sich schließlich als Glücksgriff. Als sein Vertrag schon lange vor Ablauf der fünf Jahre verlängert wurde, zog seine Familie nach. Sie hatte sich bei Besuchen immer sehr wohl in der Stadt gefühlt. Die Zusammenarbeit läuft nun doch auf eine lebenslange Stellung hinaus, sagt Riedemann. Im Rahmen der Unternehmensnachfolge ist inzwischen vorgesehen, dass dieser Geschäftsführer einen Anteil erben und das Unternehmen fortführen wird.
Und wie geht es für die Maurers weiter? Weiter bewerben, bis es klappt. Vergangenen Freitag ist Christian zu einem Vorstellungsgespräch nach Erlangen gefahren. Der Firmenchef dort wohnt selbst 300 Kilometer entfernt.
* Katja, Christian und Anna Maurer heißen anders, sind der Redaktion aber mit vollem Namen und Wohnsitz bekannt.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Textversion wurde nicht berücksichtigt, dass die Residenzpflicht für Ärzte inzwischen zu einer Präsenzpflicht abgeschwächt wurde.