
Wagenmeister bei der Bahn: Gib mir ein "Ping"
Wagenmeister bei der Bahn Soundcheck am Waggonrad
Mehrere Kilometer muss Bernd Smuda durch einen Wald fahren, um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen. Es dämmert, Nebel liegt über dem Boden. Das Auto rumpelt an einem Gleis entlang, das zu einer beleuchteten Bahnanlage führt. Ein Güterbahnhof mitten im brandenburgischen Nirgendwo, nicht weit entfernt von der Stadt Schwedt an der polnischen Grenze.
Unzählige Kesselwaggons stehen vor roten Signalen. Einige der Züge warten auf Bernd Smuda. Ohne ihn dürfen sie nicht abfahren. Er ist Wagenmeister bei der Deutschen Bahn, einer von gut 1500. Bevor er nicht jeden einzelnen Waggon unter die Lupe genommen hat, darf keiner der Züge auf die Strecke. Sind die Kupplungen fest? Ist die Ladung gesichert? Funktionieren die Bremsen? Den Job des Wagenmeisters, der nach Angaben der Bahn überwiegend im Güterverkehr eingesetzt wird, kann kein Computer übernehmen. Menschliches Auge und Gehör sind gefragt. Seit der Erfindung der Eisenbahn hat sich dieser Beruf kaum verändert.
"Jeder Waggon erhält regelmäßig eine technische Wagenuntersuchung und eine Bremsprobe", sagt der 51-Jährige. "Das ist wie beim Auto." Nur seien die Fristen hier eben kürzer. Die technische Prüfung wird nach jedem Be- und Entladen fällig, im Schnitt also alle paar Tage, manchmal öfter.

Lokführer in Abu Dhabi: Rangieren und radeln in sengender Hitze
Es ist 6 Uhr, als Smuda sich im Betriebsgebäude an seinen Schreibtisch setzt. Die Sicherheitskleidung in Schrill-Orange trägt er bereits. In diesem Moment geht die Sonne auf und schickt ihre ersten Strahlen durch den Kiefernwald. Smuda, Sommersprossen, kurze rötliche Haare, trinkt jetzt seinen ersten Kaffee. So macht er es seit 30 Jahren, seit er Wagenmeister ist. Ausgebildet wurde er zu DDR-Zeiten bei der Reichsbahn. Er lernte Polnisch, denn immer wieder wird er auch am Grenzbahnhof Stettin eingesetzt.
Der Arbeitstag beginnt mit Papierkram. Smuda druckt Frachtbriefe und Transportscheine für seinen ersten Zug aus. Sie kommen aus der zentralen Abfertigung der Bahn in Duisburg. 21 Kesselwagen muss er prüfen, jeweils 90 Tonnen schwer, befüllt mit Propylengas und Flüssigbrennstoffen. Ihr Ziel: der Rangierbahnhof Seddin südwestlich von Berlin. Dort werden die Waggons wieder getrennt, zu neuen Zügen zusammengesetzt und über Deutschland verteilt.
Mit mehr als einer halben Stunde Verspätung kommt der Zug aus der benachbarten PCK-Raffinerie, einer der größten bundesweit. Zu ihr gehört der Güterbahnhof, über den fast nur Hochexplosives rollt. Diesel, Kerosin, Benzin oder Gas haben die Kesselzüge geladen, wenn sie aus dem Werk kommen. Von hier aus werden zum Beispiel die Berliner Flughäfen mit Flugzeugtreibstoff beliefert. Wie fühlt man sich, wenn man dauernd von zig Millionen Litern Brennstoffen umgeben ist? Daran denke er gar nicht erst, sagt Smuda.
"Routine kann tödlich sein"
Bevor er hinauseilt zu den Waggons, greift er sich sein wichtigstes Werkzeug: den Klanghammer. Ohne ihn ist der Wagenmeister kein Wagenmeister. Denn die Klangprobe an den Rädern, ausgeführt mit einem beherzten Hammerschlag, ist eine seiner wichtigsten Aufgaben. Bernd Smuda demonstriert sie an einem der Kesselwagen. Ein heller, reiner Klang ertönt. "Hört man gern", sagt Bernd Smuda. Der Ton beweise: Das Rad hat keine Risse und sitzt fest auf der Achse. Woran erkennt man einen Bruch? Smuda überlegt kurz. "Es macht dann eher pong statt ping", sagt er. So ein kurzer, dumpfer Klang ohne Nachhall. "Man muss kein geschulter Musiker sein, um das zu hören." Er lacht.
Trotzdem sei es wichtig, mit unterschiedlichen Waggons konfrontiert zu werden. "Routine kann tödlich sein", sagt er. Was ein beschädigtes Rad verursachen kann, hat die Zug-Katastrophe von Eschede 1998 gezeigt. Ursache für den ICE-Unfall mit 101 Toten war ein Radreifen, der sich gelöst hatte. Bis Anfang der Neunzigerjahre, sagt Smuda, habe er mindestens einmal pro Monat lose Radreifen an seinen Zügen entdeckt. Heute komme das nicht mehr vor. "Räder werden fast nur noch aus einem Stück gefertigt."
Ein überbremster Waggon muss aufs Abstellgleis
Viel häufiger seien Waggons, deren Räder durch zu starkes Bremsen einen Schlag bekämen. Auf einem Abstellgleis am Rand des Bahnhofs zeigt Smuda einen Kesselwagen, der auf eine Reparatur wartet. An einem der Räder sitzt auf der Lauffläche ein mehrere Millimeter dicker Metallklumpen, ein sogenannter Materialauftrag. "Der Waggon ist überbremst worden", sagt er.
Entdeckt ein Wagenmeister größere Schäden, muss der Waggon sofort aus dem Zug genommen werden. Selbst dann, wenn vorn schon eine Lok angespannt ist und auf die Abfahrt wartet. "Als Wagenmeister entscheide ich das. Es geht ja um die Sicherheit", sagt Smuda. Manchmal sei Durchsetzungsvermögen nötig. Immer wieder höre er Fragen wie: "Schafft der es nicht wenigstens bis Seddin?"
Dann muss Bernd Smuda weiter seinen Zug abschreiten - allein, wie fast immer. Wegen der Verspätung hat es der Lokführer eilig, ungeduldig schaut er aus seinem Fenster. Smuda muss eine Kupplung nachziehen, er prüft Drehgestelle, zieht alte Frachtpapiere aus den Zettelhaltern und löst eine Bremse. Etwa vier solcher Untersuchungen schafft ein Wagenmeister pro Tag. "In der Nachtschicht haben wir am meisten zu tun", sagt der 51-Jährige. Da seien mehr Güterzüge unterwegs, weil der Personenverkehr Pause habe.
Der Mann mit den Sommersprossen liebt seinen Job, auch nach 30 Jahren. "Langweilig wird das nie", sagt er. Schließlich verändere sich der Wagenpark. Außerdem mache er ja dauernd Fortbildungen. Für fast jede Frachtart brauchen Wagenmeister Zusatzqualifikationen: für Container, Gefahrgut, Panzer und sperriges Gut wie Erdgasrohre oder Teile von Windkraftanlagen. Bernd Smuda hat sie alle.

KarriereSPIEGEL-Autor Sebastian Höhn (Jahrgang 1979) ist freier Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Berlin.Homepage: Sebastian Höhn, Journalist und Fotograf