Aufschieberitis Am besten rein in den vollen Horror

Wir haben doch keine Zeit: Die gute alte Stempeluhr könnte gegen Aufschieberitis helfen
Foto: CorbisWie lange habe ich diesen Artikel aufgeschoben. Schließlich mussten Experten angerufen und Bücher gesichtet werden. Morgen, sagte ich mir, würde ich anfangen. Grundsätzlich, erzählt mir der Psychologe Fred Rist dann am Telefon, könne alles aufgeschoben werden, die Aufgabe müsse nur Unlust versprechen: Examensarbeit anmelden, Kunden zurückrufen oder die Steuererklärung erledigen.
Prokrastinieren, also krankhaftes Aufschieben, korreliert mit Impulsivität und Ablenkbarkeit, sagt Fred Rist. Er arbeitet bei der Prokrastinationsambulanz der Uni Münster, die Studenten Gruppen- und Einzelbehandlungen gegen Aufschieberitis anbietet. "Auch ein gewisser Neurotizismus wirkt da rein", erklärt er, "eine Zwanghaftigkeit, sich in Details zu verlieren."
Der Psychoanalytiker Hans-Werner Rückert sieht in seinem Werk "Schluss mit dem ewigen Aufschieben" Bezüge zur hysterischen Persönlichkeit: Solche Menschen liebten Anfänge und verabscheuten Detailarbeit. Doch auch er hält Aufschieber eher für perfektionistisch, mit irrationaler Angst vor Versagen, manchmal sogar mit Angst vor Erfolg. Hinter der Oberflächlichkeit des Aufschiebens lauern demzufolge oft weitere Konflikte. Dabei lassen sich vier Motive ausmachen.

Arbeits-Ablenkungen: Wo war ich gerade?
- Bloß kein Feedback
Pia ist 32 und Doktorandin der Germanistik. Sie fürchtet eine schwierige Phase ihrer Doktorarbeit. Sie beginnt neue Hobbys, meldet sich in einer Debattiergruppe an. Jetzt kann sie rechtfertigen, warum die Arbeit an der Passage nicht in Angriff genommen werden kann. Doch irgendwann lässt sich das ungeschriebene Kapitel nicht mehr ausblenden und ihr Aktionismus kippt in Selbstabwertung und Selbstvorwürfe.
Wirksamer als diese Fixierung aufs Endergebnis wäre das Zerlegen einer Aufgabe in kleinere Teile, die Prozessbrille, rät Rist. Psychologen raten zu Listen, die mit kleinsten Zeitfenstern arbeiten, Aufgabe und Tag zerlegen. Denn mit dem Blick durch die Endergebnisbrille vermeiden Prokrastinierer kurzfristig Feedback in einer zentralen Angelegenheit. Das entlastet von Unlust, langfristig führt es in eine negative Selbstwertspirale, bis in depressive Stimmungen hinein.
- Die Gefahr lauert überall
Sven, 30, schob sein Magisterstudium wegen Prüfungsangst so lange vor sich her, bis seine Professoren im Ruhestand waren, die Kommilitonen zehn Jahre jünger. Schließlich schmiss er sein Studium. Katastrophenkino im Kopf hielt sein Verhalten in Gang: "Die Prüfung könnte zum peinlichen Desaster ausarten, ich könnte ohnmächtig umkippen." Rückert rät, sich in solchen Situationen zu fragen: "Stimmt das?" oder "Ist das wirklich so?" Eine eher phobisch veranlagte Persönlichkeit schöbe ja gerade jene Dinge auf, die sie weiterbrächten.
"Menschen, die aufschieben", sagt Rückert, "beginnen, sich an einem Punkt selbst rätselhaft zu werden." Sie beobachten sich selbst wie im Scheinwerferlicht: "Warum fängt dieser Typ nicht an?" Statt eines wohlwollenden inneren Begleiters haben sie einen "nörgelnden Beobachter" an ihrer Seite. Selbstakzeptanz und Selbstmotivation, ist der Psychoanalytiker überzeugt, versprächen aber weit mehr Erfolg.
- Morgen komme ich groß raus
Rückert hat den "Irgendwann komme ich groß raus"-Komplex geortet. Wenn Idealbild und Wirklichkeit beruflich auseinanderklaffen, hat das Aufschieben oft den Wert, die eigenen hohen Ideale aufrechterhalten zu können. Joachim ist Jurist, steuert auf die 40 zu, bewirbt sich aber nicht auf die Stelle in der Großkanzlei, weil er dort Verträge auf Englisch prüfen müsste. "Nächstes Jahr", sagt er zu allen, "werde ich Englisch lernen und mich bewerben." Er findet, dass er in die Top-Kanzlei gehöre, fürchtet aber die Überprüfung. Zeit vergeht, Joachim lernt kein Englisch. Doch das Projekt ist für sein Selbstbild nicht gestorben.
- Die Familienkiste
Schließlich gibt es das Motiv Familienkiste: Rückert beschreibt den Grundkonflikt "Gefügigkeit versus Auflehnung": Manch einer kann Individualität gegenüber seiner Familie nur durch Aufschieben behaupten. Der Abschluss des Studiums rückt dann in weite Ferne, weil der Sprössling insgeheim das väterliche Hotel gar nicht übernehmen will. Die Familie wird vertröstet, dass es "nun aber (im neuen Jahr, nach weiterer Materialsammlung) endlich weitergehen werde."
Was ist zu tun? Rückert sagt, dass Aufschiebe-Ängste sich dann auflösen, wenn exakt das getan wird, wovor die Angst besteht. Machen ist besser als gut machen, ist seine Devise. Es helfe radikale "Handlungsorientierung". Für Ängstliche und Blockierte heißt das: "Rein in den vollen Horror." Wichtig sei laut Rückert auch, den Selbstwert als Person vom Erfolg abzukoppeln. Man sollte sich auch nicht global als Aufschieber stigmatisieren, sondern die einzelnen Bereiche der Persönlichkeit bewerten.
In Münster wiederum schwören sie auf pünktlichen Arbeitsbeginn und "Zeitverknappung", wie Rist sagt. Es darf nur in bestimmten Zeiten gearbeitet werden. "Zeit wird dadurch kostbar", und vor allem "werden Arbeit und Privatleben wieder trennbar." Auch ein Veränderungslogbuch zu führen, soll laut Rückert helfen.
Ich habe schließlich in mein Logbuch notiert: Artikel fertig. Ein gutes Gefühl.

KarriereSPIEGEL-Autorin Stefanie Maeck (Jahrgang 1975) ist Absolventin der Zeitenspiegel Reportageschule und arbeitet als freie Journalistin in Hamburg. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Romanistik und promovierte in Literaturwissenschaft.