Elitenforscher Michael Hartmann Wer Chef werden will, muss sein wie die Chefs
SPIEGEL ONLINE: Herr Hartmann, wie schätzen Sie meine Aufstiegschancen ein?
Hartmann: Sie sind über 1,80 Meter groß, damit haben Sie schon mal die Mindestkörpergröße der meisten Chefs in Deutschland. Aber es gibt eine ganze Reihe von wichtigen Faktoren. Körperhaltung und Mimik spielen eine Rolle, ebenso wie Fachkenntnisse oder Risikofreude. Nicht alle sind bei einer ersten Begegnung offensichtlich. Eine gewählte Ausdrucksweise fällt dagegen sofort auf. Sie kann ein deutliches Signal für ein gebildetes Elternhaus sein. Bei einem Ingenieur wäre das in der Regel so. Aber Sie als Journalist können sowieso mit Sprache umgehen, sonst hätten Sie den Beruf nicht ergriffen.
SPIEGEL ONLINE: Warum ist es wichtig, aus gutem Hause zu kommen?

Michael Hartmann, 62, ist Professor für Soziologie und lehrte bis 2014 an der TU Darmstadt. Zu seinen Schwerpunkten gehören Eliteforschung und Managementsoziologie. In umfangreichen Studien hat er unter anderem den familiären Hintergrund der Chefetagen in deutschen Großunternehmen erforscht. Gerade ist im Campus-Verlag sein neues Buch erschienen: "Die globale Wirtschaftselite. Eine Legende".
Hartmann: Wenn Sie zu den Entscheidern von morgen gehören wollen, müssen Sie den Entscheidern von heute vermitteln, dass Sie zu ihnen passen. Am leichtesten fällt das allen, die sowieso aus dem gleichen Milieu kommen: Wer aus einem einflussreichen Elternhaus stammt, bewegt sich ganz selbstverständlich auf diesem Parkett. Deswegen gibt es so wenige Aufsteiger, etwa aus dem Arbeitermilieu oder aus Migrantenfamilien. Selbst, wenn Sie einen erstklassigen Studienabschluss haben, fehlen Ihnen oft ganz subtile Verhaltensmerkmale, die man kaum nachträglich erlernen kann, wenn man sie nicht in der Kindheit mitbekommen hat.
SPIEGEL ONLINE: Milliardäre wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg treten in Adiletten auf, Chefs wie Angestellte duzen sich. Verlieren die subtilen Statusmerkmale, von denen Sie sprechen, nicht an Bedeutung?
Hartmann: Die Mittel, um sich zu unterscheiden, unterliegen Moden. Aber davon darf man sich nicht täuschen lassen: Die zugrunde liegenden Mechanismen bleiben die gleichen.
SPIEGEL ONLINE: An welche Moden denken Sie da?
Hartmann: Früher gehörte klassische Musik zum Bildungskanon der Eliten, viele Vorstände spielten selbst ein Instrument. Andere waren Mäzene von Schauspielhäusern und Kunsthallen. Das trifft man immer seltener an. Heute sind die Hobbys der Chefs oft sportlich und sie fördern Fußballklubs. Fußball galt früher als proletarisch und ist heute Mainstream. Die Vorstandsetage trifft sich allerdings in der VIP-Loge von Bayern München und nicht beim Straßenkick.
SPIEGEL ONLINE: Wie erklären Sie sich diesen Wandel?
Hartmann: Die Arbeitswelt hat sich verändert. Wer Geige spielt, braucht dafür Zeit. Vor dreißig, vierzig Jahren hatten auch Vorstände weitgehend freie Wochenenden. Das gibt es nicht mehr. Wer die Dauerbelastung einer solchen Aufgabe über Jahre durchstehen will, muss fit sein. Und so ist ein neues Merkmal des Führungspersonals entstanden: Manager sind heute trainiert, schlank und drahtig. Eine solche Figur gilt als Zeichen von Disziplin, Korpulenz als Merkmal der Unterschicht. In den Nachkriegsjahren war es genau umgekehrt: Klassische Generaldirektoren waren übergewichtig und rauchten Zigarren. Sie hatten es geschafft, den Mangel überwunden.
SPIEGEL ONLINE: Welchen Stellenwert hat formelle Bildung heute?
Hartmann: Abitur, ein guter Studienabschluss, teilweise auch ein Auslandsstudium - das sind alles zwingende Voraussetzungen für den Aufstieg. Und je jünger jemand ist, desto wichtiger. Von denen, die heute in einem Unternehmen eine hohe Leitungsfunktion übernehmen, haben rund 95 Prozent einen Hochschulabschluss, nur im Handel liegt der Anteil noch niedriger. Allerdings gehört zu dieser Entwicklung auch die Akademisierung vieler Bildungsangebote. Heute macht man einen Master an der Frankfurt School of Finance, das war früher die Bankakademie, die man nach der Banklehre besuchte. Wenn aber alle formell so gebildet sind, werden Unterschiede im Habitus eher noch wichtiger.
SPIEGEL ONLINE: Der Stallgeruch bleibt entscheidend?
Hartmann: Ja, trotz aller Fortschritte: Je weiter oben in der Hierarchie Sie schauen, desto wichtiger ist Habitus.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das konkret? Nehmen wir ein Arbeiterkind, das sich durchgebissen hat: Einser-Abschluss, guter Job, recht erfolgreich auf einer Position im Mittelmanagement. Wie geht es weiter?
Hartmann: Als mittlerer Manager lernt das Arbeiterkind Vorstände kennen. Vielleicht kommt es aufgrund seiner Erfolge für eine Führungsposition in Betracht - so wie drei andere Kandidaten, die auf dem Papier alle gleich stark aussehen. Unterbewusst werden sich die meisten Vorstände dann für den Kandidaten entscheiden, der ihnen am ähnlichsten ist. Und das ist selten das Arbeiterkind.
SPIEGEL ONLINE: Aber unser Arbeiterkind ist wortgewandt und schlagfertig, hat Tischmanieren und sich beim Kauf der Garderobe gut beraten lassen. Es ist kulturbeflissen, hat stets alle Geschäftszahlen parat und scheut sich nicht, Entscheidungen zu treffen. Woran hapert es?
Hartmann: Für meine Studien habe ich Hunderte von Intensivinterviews mit Entscheidungsträgern geführt. Bereits bei der ersten Begegnung habe ich mich gefragt: Aufsteiger oder nicht? Ich lag in weit über 90 Prozent der Fälle richtig. Der Unterschied ist: Wer sich von unten in dieses Milieu arbeitet, dem fehlt die Unbefangenheit, die Lässigkeit. Aufsteiger sind oft konzentriert darauf, nicht durch Fehler aufzufallen, weil ein Fehler zeigen könnte, dass sie eigentlich nicht dazugehören. Sie fragen sich: Darf man das hier so sagen? Oder klingt das nach Aufsteiger?
SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht überspitzt?
Hartmann: Mir ist das in unterschiedlichen Ausprägungen häufig begegnet. Ich habe, um ein besonders krasses Beispiel zu nehmen, mit dem Vorstand eines Dax-Konzerns gesprochen, einem Arbeiterkind. Der ging regelrecht in eine Verteidigungshaltung, er verschränkte die Arme, antwortete einsilbig. Dabei hätte er genauso gut denken können: Ich spreche mit einem kleinen Soziologiedozenten, die Antworten sind anonymisiert - was kann schon passieren?
SPIEGEL ONLINE: Aber so uniform ist die Upperclass doch auch nicht.
Hartmann: Wer schon seit seiner Kindheit dazu gehört, geht mit Abweichungen von den Normen entspannter um. Er wählt zum Beispiel einen Kraftausdruck im vollen Bewusstsein, dass man das normalerweise nicht tut.
SPIEGEL ONLINE: Wie wirkt sich die Schutzhaltung der Aufsteiger im Alltag aus?
Hartmann: Eine Edelfeder einer großen Zeitschrift sagte mir mal, dass er anfangs total verunsichert war im Kreis der Ressortchefs, alle aus bürgerlichen Familien. In jedem Meeting mit ihnen hatte er das Gefühl, es gebe da ein intuitives Verständnis untereinander, das er nicht teilte. Er brauchte Jahre, um sich sicher zu sein: Da ist nichts.
SPIEGEL ONLINE: Die Hürde hatte er in seiner Vorstellung aufgebaut.
Hartmann: Sicher, aber so geht es vielen. Sie glauben, die Chefs teilen ein letztes Geheimnis, das sie selbst nicht kennen. So ein Geheimnis gibt es in der Regel nicht, und auch im Auftreten existieren weniger No-Gos, als man denkt. Wer das weiß, kann sogar mit Verstößen punkten: Seht her, wie souverän ich mit den Regeln spiele.
SPIEGEL ONLINE: Zählt denn Leistung überhaupt nicht?
Hartmann: Um ein Herkunftsmanko ausgleichen, muss man schon sehr viel besser sein oder aber die Umstände müssen günstig sein, etwa in einer Unternehmenskrise.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Hartmann: Nehmen Sie Kajo Neukirchen, der sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht hat. Der erarbeitete sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren einen Ruf als Krisenmanager, bei SKF, bei Klöckner-Humboldt-Deutz, bei Hoesch und der Metallgesellschaft. Er schmiss reihenweise Personal, aber auch Manager raus. Wahrscheinlich war seine Herkunft dabei sogar ein Vorteil - weil er nicht wirklich dazugehörte.