
Werbefestival in Cannes Bonjour, ich bin Emerging Experience Developer

Wenn selbst die Bundeskanzlerin von der Industrie 4.0 spricht, muss sich die Wirtschaft wirklich grundlegend verändert haben. Von der Fertigung bis zum Handel, vom Verlag bis zum Fernsehsender, vom Finanz- bis zum Reisesektor. Die Digitalisierung hat ganze Industriezweige umgekrempelt, andere einfach weggemäht. Das merkt man auch beim Wettbewerb der Werbebranche in Cannes. Die Kommunikation zwischen Menschen hat sich vollständig verändert, die Kommunikationsbranche gleich mit.
Früher reichten ein Grafiker, ein Texter und ein Kundenberater als Team für eine Anzeige, ein Plakat oder einen Werbespot. Im Unternehmen gab es einen Marketingmanager und einige Assistenten. Heute brauchen Marken und Produkte unendlich viele Fachleute, um sich Gehör zu verschaffen.
Ohne User-Experience-Spezialisten läuft beispielsweise im digitalen Raum gar nichts mehr. Ein solcher sorgt dafür, dass eine Webseite benutzerfreundlich ist und auch auf dem Smartphone ebenso gut funktioniert. Doch noch immer sitzen in den Chefetagen Leute, die zwar die Planstelle für den User-Experience-Experten freigegeben haben, aber gleichwohl niemandem erklären könnten, was der eigentlich tut.
Immer gern genommen: Extravagante Titel
Ein Besuch in Cannes hilft. Hier trifft man überall auf Leute mit den seltsamsten Berufsbezeichnungen. Die Kommunikationsbranche ist seit jeher gut im Erfinden extravaganter Titel ("Chief Executive Account Manager BTL"). Zudem ist Werbung zu einer hochkomplexen Angelegenheit geworden. Und zu einer Brutstätte neuer Berufe.
Es reicht nicht mehr, Werbebotschaften für Produkte in die Welt zu senden. Marken wollen selbst zum Gesprächsthema werden. Viele Filme, Apps und Events werden mit hohem technischen Aufwand einzig entwickelt, um im Netz für Gesprächsstoff zu sorgen.
Wie vielfältig Markenkommunikation geworden ist, lässt sich beim Festival gut an der Kategorie Film erkennen. Früher wurden 30- bis 60-sekündige Spots für Kino und TV eingereicht. Heute rackern sich die Juroren durch mehr als 3000 Wettbewerbsbeiträge, von denen weit über die Hälfte ausschließlich fürs Internet konzipiert wurden. Die Bandbreite reicht von Dokumentationen bis zu mehrteiligen Webshows.
Die Favoriten des Festivals
Einst war der häufigste Satz von Marketingleitern: "Macht das Logo größer!" Mittlerweile halten sich Unternehmen oftmals so im Hintergrund, dass sich die Werbung gar nicht mehr wie Werbung anfühlt. Auch hier sind etliche neue Berufsgruppen beteiligt, die es zu Zeiten klassischer Fernsehwerbung noch nicht gab.
Zu den Favoriten in Cannes zählen:
Den Honda-Film "The Other Side" kann man durch Drücken der "R"-Taste aus zwei Perspektiven sehen. Allein den Trailer schauten sich vier Millionen Menschen an.
Der amerikanische Versicherer Geico erreichte mit diesem YouTube-Film sieben Millionen Klicks. Die Kampagne gilt als sicherer Löwen-Kandidat.
Beats by Dre kreierte das fünfminütige Epos "The Game Before the Game" und holte sich mit fast 30 Millionen Klicks souverän den Titel als packendster WM-Spot.
Die britische Supermarktkette John Lewis schoss mit ihrem Weihnachtsspot buchstäblich den Vogel ab. 23 Millionen Mal wurde der Pinguinfilm bisher angeklickt.
Selbst für diesen "normalen" Film braucht es einen Spezialisten, der weiß, wie und wo man einen Werbespot ins Netz stellen muss, damit er Millionen erreicht. Denn das passiert nie von selbst, sondern ist die Wissenschaft des Seeding Strategist.
Die neue Komplexität lässt ständig neue Berufe entstehen. Den Creative Technologist gab es vor fünf Jahren ebenso wenig wie den Social Listening Manager. Der Content Editor und der Content Strategist sind dagegen alte Bekannte - nur hießen sie einst ganz schlicht "Redakteur". Neu sind Jobbezeichnungen wie Quality Assurance Analyst, Emerging Experience Developer oder Head Of Performance Marketing.
In Cannes trifft man sie alle. Man lernt, was sie tun und warum es weder in Unternehmen noch in Agenturen reicht, mit den alten Mitteln in einer neuen Welt zu operieren. Es gibt also viel zu entdecken. Vielleicht sogar einen Lieblingsberuf, von dem man gar nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt. Beim Jahrestreffen einer Branche, die sich zur Zeit gerade schneller neu erfinden muss, als man seine Karriere planen kann.
Stefan Kolle (l.) ist Gründer und Geschäftsführer, Fabian Frese Partner und Geschäftsführer von Kolle Rebbe in Hamburg. Die Agentur betreut mit knapp 270 Mitarbeitern Kunden wie Lufthansa, Netflix oder Ritter Sport. Kolle Rebbe war letztes Jahr die erfolgreichste deutsche Agentur in Cannes, Frese ist dieses Jahr zum zweiten Mal in die Cannes-Filmjury berufen worden, nachdem er selbst schon viele Löwen gewonnen hat.
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Flanieren auf der Promenade de la Croisette: Himbeertörtchen und Catering am Beach gibt es in Cannes auch. Aber das Werberfestival hat viel mehr zu bieten. In den vergangenen Jahren hat es sich zu einem der größten Fortbildungsworkshops der Kommunikations- und Marketingbranche entwickelt.
Goldene Löwen für die Besten: Filmstars können einen Oscar erhalten, die Besten der Werbebranche einen Löwen in Gold, Silber oder Bronze. Noch bis zum 27. Juni läuft das Cannes Lions International Festival of Creativity.
Stars und Sternchen und Werbeprofis: Nicht nur der Glamourfaktor und ordentliche Honorare locken Weltstars wie Pharell Williams nach Cannes. Der Musiker hat selbst schon mehrere Cannes-Löwen gewonnen, unter anderem für sein 24-stündiges Superhit-Video "Happy".
Kooperation mit Weltmarken: Interview mit Rocker Marilyn Manson auf der Festivalbühne in Cannes.
Networking auf Tretbooten: Google hat sich, wie schon letztes Jahr, einen kompletten Strand reserviert und lädt dort zum Netzwerken ein - nicht zuletzt leben auch Weltfirmen wie der Internetriese von der Werbung.
Trophäen in 17 Kategorien: Auf der Festivalbühne kürt die Jury die Favoriten. Zwischenbilanz: 162 Shortlist-Plätze für Deutschland.
Party mit Busta Rhymes: Der amerikanische Rapper, einer der schillerndsten Popmusiker seiner Generation, macht in Cannes Stimmung.
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