
Wirtschaftsprüfer: Große Zahlen, große Qualen
Wirtschaftsprüfer Große Zahlen, große Qualen
Sandra P. weiß nicht, in welchem Haus sie wohnt. Zumindest weiß sie nicht, wie es aussieht. Die Mietskaserne, in die sie vor wenigen Monaten gezogen ist, könnte zartgrün gestrichen sein. Vielleicht auch hellblau. Oder rosa. Doch im Licht der Straßenlaternen sind bekanntlich alle Häuser grau. Lange bevor die Sonne aufgeht, fährt P. mit der S-Bahn von Solingen nach Düsseldorf ins Büro. Auf der Heimfahrt scheint nur der Mond. Dabei ist es März, und die Tage werden länger. Am Wochenende arbeitet P. ebenfalls. Wenn sie im Projekt bei einem Kunden ist, hat sie nach Feierabend mehr Zeit als zu Hause, weil sie nicht kochen, putzen, waschen muss.
Wirtschaftsprüfer nennen die Monate von November bis April die "Busy Season". Dann fertigen die großen Kapitalgesellschaften ihre Jahresabschlüsse an, und die Prüfer rechnen nach. Ihr Bestätigungsvermerk, das sogenannte Testat, macht die Bilanz amtlich. Dem Vermerk - ein paar dürre Zeilen am Ende des Geschäftsberichts - sieht man nicht an, wie viel Arbeit darin steckt, weil der eigentliche Prüfungsbericht nicht veröffentlicht wird.
"13-Stunden-Tage sind für mich in der Busy Season normal", sagt P. "Abrechnen darf ich eigentlich nur acht, weil ich sonst das Stundenbudget überziehe, das der zuständige Partner viel zu niedrig angesetzt hat, um den Auftrag zu bekommen. Wenn ich Überstunden anmelde, muss ich mir anhören, dass durch mich der generierte Deckungsbeitrag pro Stunde sinkt."
Öffentlicher Auftrag, lukrative Kundenbeziehung
Wirtschaftsprüfer gehören in Deutschland zu den freien Berufen. Die Wirtschaftsprüferkammer mit Hauptsitz in Berlin zählt 21.465 Mitglieder, darunter 14.345 Wirtschaftsprüfer, 3365 vereidigte Buchprüfer und 2762 Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Deren Kunden sind zum einen Kapitalgesellschaften, Banken, Versicherungen und Unternehmen des Staates, die von Gesetz wegen jährlich ihren Abschluss prüfen lassen müssen. Zum anderen kleine und mittlere Unternehmen, die sich freiwillig der Prüfung unterziehen, weil dies beispielsweise Investoren von ihnen verlangen.
Die Prüfung ist ein öffentlicher Auftrag. Wer ihn wie zu erledigen hat, steht in der Wirtschaftsprüferordnung, einem Gesetz aus dem Jahr 1961, das zigfach geändert wurde und mittlerweile hundert Seiten umfasst. Zurzeit beraten EU-Kommission und -Parlament über eine europäische Berufsordnung, die auf mehr Transparenz in der Prüftätigkeit abzielt - und das angekratzte Image der Prüfer aufpolieren soll.
An Pleiten, Pech und Pannen mangelt es nicht in der Geschichte des Berufsstands. Sein Hauptproblem ist der Interessenkonflikt zwischen öffentlichem Auftrag und lukrativer Kundenbeziehung. Wer zahlt, hat recht, weshalb es in der Praxis schwierig ist, die Unabhängigkeit des Prüfers gegenüber dem zu prüfenden Unternehmen durchzusetzen. Hinzu kommt, dass der Prüfer nie die Geschäftstätigkeit vollständig unter die Lupe nehmen kann. Er wählt Prüfungsfelder aus und in diesen untersucht er Stichproben.
Geschönte Zahlen - alle sauber testiert
So konnte es passieren, dass KPMG in den achtziger und neunziger Jahren geschönte Zahlen der Metallgesellschaft testierte oder dass der Wirtschaftsprüfer Wolfgang Klenke 1993 dem Baulöwen Jürgen Schneider ein Milliardenvermögen zuschrieb, als dieser schon pleite war. Schwer verschätzten sich um die Jahrtausendwende Arthur Andersen beim US-Energiekonzern Enron und in jüngster Zeit PricewaterhouseCoopers (PwC) bei der Bad Bank der Hypo Real Estate.
Immer geht es um große Summen. Laut der Lünendonk-Liste der führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Deutschland haben die Top 25 der Branche 2012 einen Honorarumsatz von insgesamt 5,6 Milliarden Euro gemacht - das lässt sich auf ein Prüfungsvolumen von einigen Billionen Euro hochrechnen.
Viel Geld bedeutet viel Verantwortung. "Die wichtigste Aufgabe von uns Wirtschaftsprüfern ist es, für Vertrauen in den Märkten zu sorgen", betont Norbert Winkeljohann, Vorstandssprecher von PwC Deutschland in Frankfurt am Main. "Zusätzlich zu den finanziellen Kennzahlen sollten wir künftig auch das Geschäftsmodell, die Strategie und die Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf Umwelt und Gesellschaft noch stärker berücksichtigen."
Auf Augenhöhe mit den Bossen
Um den Blick für Tricksereien in Bilanzen zu schärfen, durchlaufen Wirtschaftsprüfer eine aufwendige Ausbildung. Die Grundlage bildet meist ein Hochschulstudium, zu 80 Prozent Wirtschaftswissenschaften. Es folgen eine mindestens dreijährige Prüfungstätigkeit und das bundeseinheitliche Wirtschaftsprüferexamen, eines der härtesten Berufsexamina überhaupt, das nur etwa die Hälfte im ersten Anlauf besteht.
Die "Big Four" der Branche - PwC, KPMG, Deloitte und Ernst & Young - sind selbst weltumspannende Großunternehmen, die weit mehr machen, als Jahresabschlüsse nach nationalen und internationalen Grundsätzen der Rechnungslegung zu prüfen. Ein zweites Standbein ist die Steuerberatung. Das Spektrum reicht vom Erstellen der Steuererklärung bis zu juristischer Schützenhilfe, wenn einmal krumme Geschäfte auf den Caymans auffliegen. Hinzu kommt die allgemeine Beratung, etwa bei Fusionen und Firmenübernahmen. Besonders groß ist die Schnittmenge mit der klassischen Unternehmensberatung aber nicht. "Der Wirtschaftsprüfer ist mehr als ein Berater - er agiert auf Augenhöhe mit dem Geschäftsführer bzw. dem Vorstand des Mandanten", sagt Rüdiger Matzen, Personalmanager bei BDO in Hamburg.
Bis ein Absolvent in die Chefetage des Kunden vordringt, vergeht eine Weile. Er startet als Wirtschaftsprüfungsassistent und beschäftigt sich mit Zuarbeiten, zum Beispiel Datenrecherche, Inventuren, Saldenbestätigungen, Prüfungen des Kassenbestands. Zwei bis vier Jahre später kann er Senior werden, erste Prüfungsaufträge planen und Teilprojekte beim Kunden leiten. Nach dem Bestehen des Examens ist die Beförderung zum Manager möglich, der ganze Prüfungen verantwortet. An der Spitze der Evolution steht der Partner. Seine Unterschrift ziert das Testat, oft räumt ihm die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft das Recht ein, Gesellschafteranteile zu erwerben. Nebenbei bemerkt: Dass hier nur von "er" und "ihm" die Rede ist, liegt daran, dass der Frauenanteil unter den examinierten Wirtschaftsprüfern bescheidene 15 Prozent beträgt.
Schnell dreht sich das Jobkarussell
Der hohe Arbeitsdruck, die fortschreitende Konzentration in der Branche und verlockende Jobangebote von Banken und aus der Industrie führen zu häufigen Stellenwechseln. "Am häufigsten feiern wir Abschiede", sagt ein Wirtschaftsprüfer. Die Fluktuation wird auf zehn bis 20 Prozent geschätzt. "Die Planungshorizonte der jungen Talente werden kürzer", bestätigt Wolfgang Zieren, Personalvorstand bei KPMG in Düsseldorf. "Sie entscheiden sich nicht mehr für einen Arbeitgeber, dem sie ihr ganzes Berufsleben treu bleiben."
Die Wechselbereitschaft hängt auch damit zusammen, dass nur eine schnelle Karriere sich finanziell lohnt. Das durchschnittliche Einstiegsgehalt beträgt 42.000 Euro, wie der Vergütungsdienstleister Personalmarkt weiß. Das ist für Wiwi-Absolventen nicht überwältigend. Erst nach dem Examen wird der Job finanziell attraktiver, Seniors kommen auf durchschnittlich 90.600 Euro. Zu dem Zeitpunkt haben aber viele schon graue Schläfen: Nur 17 Prozent der examinierten Wirtschaftsprüfer sind jünger als 40 Jahre. Richtig gut verdienen Partner, für ihre Gehälter gilt: nach oben offen.
Um sich als attraktive Arbeitgeber zu präsentieren, verweist die Branche auf die vielfältigen Aufgaben und die Weiterbildungsmöglichkeiten. Relativ neu ist das Thema Work-Life-Balance. Doch Angebote wie die Umwandlung von Boni in Zeitguthaben oder Unterstützung bei der Kinderbetreuung sind nicht selbstverständlich. Und wo es sie gibt, trauen sich Mitarbeiter oft nicht, zuzugreifen. Sie haben Angst, als freizeitorientiert abgestempelt zu werden und die Karriere zu verspielen.
Krisen sind gute Zeiten
Mancher tröstet sich damit, wenigstens einen festen Arbeitsplatz zu haben. "Krisensicher ist der Beruf ohnehin", meint Professor Jens Wüstemann, der als Präsident der Mannheim Business School einen renommierten Studiengang zum Master of Accounting & Taxation anbietet. "Die Wirtschaftsprüfung ist ein wichtiges und zugleich unverzichtbares Element des Wirtschaftslebens. Gerade in Krisenzeiten besitzt der Berufsstand eine besondere Bedeutung und Verantwortung."
Sandra P. tröstet sich mit etwas anderem. Nach der Busy Season schaltet sie zwei Gänge zurück und arbeitet mal "nur" acht Stunden am Tag. Kürzlich hat sie freitags um drei Feierabend gemacht. "Die Kollegen haben ein bisschen dumm geguckt, aber das war mir egal", sagt sie. Ihren Sommerurlaub, drei Wochen am Strand, hat sie schon gebucht. Danach zieht sie um, ihr neuer Arbeitgeber sitzt in Frankfurt. Wenn sie sich eine Wohnung sucht, wird sie diesmal genauer hinschauen, welchen Anstrich das Haus hat.

KarriereSPIEGEL-Autor Christoph Stehr ist freier Journalist in Hilden.