MEDIZIN 1192 mal Fehlanzeige
Siebenunddreißigmal gingen Chefarzt Dr. Wolfgang Dissmann vom West-Berliner Krankenhaus Am Urban oder einer seiner Kollegen im Jahr 1973 fremd. Sie untersuchten die Intensivstationen der anderen Krankenhäuser in der Stadt auf ihre technische und personelle Ausstattung für die Versorgung von Herzinfarkt-Patienten. »Manchmal«, so schildert Dissmann das Ergebnis der Besuchsrunde, »sah es aus wie auf Cape Kennedy, aber ein sinnvolles Gerät wie etwa einen Röntgenapparat gab"s nicht.«
Doch es fehlten häufig nicht nur Röntgengeräte, mit denen beispielsweise kontrolliert werden kann, ob die Elektroden eines Schrittmacher-Katheters (der den Herzrhythmus eines Infarktkranken stabilisieren soll) richtig in die rechte Herzkammer vorgedrungen sind.
Auch sonst liegt, wie aus den Aufzeichnungen der Inspizienten in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« (MMW) hervorgeht, vieles im argen. »Nur 30 Prozent« der Herzinfarkt-Patienten, so heißt es da, würden auf Stationen behandelt, »die nach ihrer apparativen und personellen Ausstattung optimale Überwachung und Therapie garantieren«.
Insgesamt hatten Dissmann und Kollegen 44 kommunale und gemeinnützige West-Berliner Krankenhäuser in ihre Untersuchung aufgenommen. Außer den 37 Abteilungen für Innere Medizin, die einer der MMW-Autoren direkt aufsuchte, erbaten die Inspektoren von sieben weiteren Kliniken Auskunft nach Zahl der Patienten, Akutbetten, technischer Ausrüstung, Therapie und Sterberate.
Das Ergebnis: Von insgesamt 4685 Bürgern Berlins, die 1973 mit einem Infarkt in die Krankenhäuser eingeliefert wurden, sind nur 70 Prozent -3368 Patienten -- »grundsätzlich auf Intensivstationen überwacht« worden.
Doch selbst diese Zahl trügt, wie aus der MMW-Arbeit hervorgeht. Sechs der Medizinischen Kliniken, in denen insgesamt 835 Infarktpatienten betreut wurden, verfügten zwar über eine Intensivstation, nicht aber über einen eigens dort diensthabenden Arzt. »Damit«, so konstatieren die Verfasser, »reduziert sich die Zahl der ärztlich optimal überwachten Patienten auf 2533.«
Eine weitere, unter Umständen noch unheilvollere Einschränkung der therapeutischen Möglichkeiten führen Dissmann und Kollegen auf »Mängel in der technischen Ausrüstung« zurück. So war bei 1285 Infarktpatienten aus technischen oder organisatorischen Gründen »keine Schrittmacher-Behandlung möglich« -- und zwar, wie die MMW-Autoren anmerken, »unabhängig davon, ob eine Intensivstation vorhanden war oder nicht«.
Bei 1790 Patienten wiederum, die mit Hilfe eines Schrittmachers überleben sollten, »gestatten die verwendeten Methoden nicht den Schluß, daß eine optimale Behandlung realisierbar war": 1007 Patienten mußten mit einem weniger verläßlichen Einschwemmkatheter vorliebnehmen, während 693 zwar mit einem sichereren, röntgenkontrollierten Schrittmacher behandelt wurden, dazu aber zeitraubend in eine von der Intensivstation entfernte Röntgenabteilung gekarrt werden mußten.
Insgesamt, so die Bewertung durch das West-Berliner Ärzteteam, hatten nur 1610 Patienten mit frischem Herzinfarkt das Glück, in den diversen Intensivstationen der Stadt »optimal« versorgt zu werden. In 1973 Fällen war die Behandlung »suboptimal«.
Daß die Misere nicht zuletzt auf die bundesweit übliche Rettungspraxis zurückzuführen ist, Infarktbetroffene wie auch andere Patienten einfach ins nächste Krankenhaus zu fahren, in dem gerade Betten frei sind, wird aus einer anderen Zahl ersichtlich: 1192 Infarkt-Patienten wurden in Krankenhäuser eingeliefert, die -- Fehlanzeige -- über keinerlei Intensivstation verfügen. Die Verteilung der Patienten, heißt es dazu in der MMW, »erfolgt nicht nach Diagnose und Ausrüstung des Hauses«, sondern bleibe »mehr oder weniger dem Zufall überlassen«.
Gedämpfte Kritik üben Dissmann und seine Mitautoren Hans-Jochen Buschmann, Walter Thimme und Jürgen-Heiner Schäfer auch an den Rehandlungsmethoden ihrer Kollegen. Gleich von elf Kliniken zum Beispiel wurde das Anti-Asthmatikum Alupent als »Mittel der ersten Wahl« bei der Versorgung von Infarktpatienten angegeben, obschon es nach Meinung der Autoren auf solche Fälle beschränkt sein sollte, bei denen ein Schrittmachereinsatz nicht möglich ist. Der Grund: Alupent steigert den Sauerstoffverbrauch des Herzens und kann Rhythmusstörungen hervorrufen.
Wer am Ende dennoch zu den Überlebenden gehört -- 3550 Männer und Frauen erlagen in West-Berlin 1974 einem Herzinfarkt -, der liegt im Durchschnitt vier bis sechs Wochen lang im Krankenbett. Denn auch eine dem angelsächsischen Vorbild entsprechende frühzeitige Mobilisierung von Infarktpatienten sei »noch nicht in die Praxis umgesetzt«.
Eine verbesserte Versorgung der Infarktopfer und somit auch »effektive medizinische Fortschritte« versprechen sich Professor Dissmann und seine Mitarbeiter hauptsächlich von »administrativen Maßnahmen": Eine Art Leitstelle, in der unabhängige Ärzte tätig sind, soll die »fachliche Kompetenz der Krankenhäuser« überprüfen und die Patienten je nach Art der Erkrankung nur auf die jeweils geeigneten Kliniken verteilen lassen.