99 Luftballons und das Chaos der Gefühle
Für die elfjährige Simone aus Kaiserslautern war''s ein phantastischer Abend, ein Erlebnis. Das Konzert mit Nena ist zu Ende. Mit heißen Wangen und schweißnaß strähnigen Haaren erzählt sie, wie gut Nena gesungen hat. Und wie begeistert sie sei über die Sachen, die Nena anhatte: eine hautenge Hose mit Leopardenmuster, eine schwarze Lederjacke, ein rotes, ärmelloses T-Shirt.
In diesem Aufzug war Gabriele Susanne Kerner, 23, Spitzname: Nena, fast zwei Stunden ständig auf der Bühne zugange, während sie bonbonfarben von computergesteuerten Scheinwerfern bestrahlt wurde. Die Photographen fluchten, weil sie sich pausenlos bewegte. Nena powerte für ihr Publikum, bis sie wirklich kaum noch weiter konnte. Mehr rackert ein Fußballer während eines Spiels auch nicht.
Das allein fand Nena-Fan Simone schon toll. Daß die Kleine als Zugabe noch einen gleichaltrigen Jungen kennenlernte, der auf sie zugeschossen kam, um sie zu seiner Geburtstagsfete einzuladen, versetzte Simone in Begeisterung.
Bei der Frage, ob sie denn auch Nenas Schallplatten zu Hause habe, regte sich in Simone das schlechte Gewissen. »Noch nicht«, gab sie zu, aber sie wolle sich jetzt unverzüglich welche kaufen.
Rund 4000 Teenager brüllten beim Tourneestart der Nena-Band in Kaiserslautern verzückt ihre Zustimmung. Vergessen war, daß Carlo, der Gitarrist, die Fans aus Kaiserslautern irrtümlich mit einem freundlichen »Hallo, Karlsruhe!« begrüßt hatte. Daß die Premieren-Nervosität auf der Bühne für ein paar Patzer, für gelegentlich chaotischen Soundsalat und Passagen interessanter Kakophonie sorgte, spielt in solchen Konzerten ohnehin keine Rolle, denn es geht um etwas anderes als nur um Musik.
Die Teenager waren gekommen, um in der Nähe ihres Idols zu sein, das sie nur von der Schallplatte, aus dem Fernsehen und den Teenie-Blättern a la »Bravo« kennen. Nena wird, das erfährt sie in diesen Wochen auf ihrem Triumphzug durch die Bundesrepublik, durch Österreich, die Schweiz und Holland, von Jugendlichen unter 20 Jahren inbrünstig verehrt. Auch Erwachsene haben wenig gegen sie einzuwenden, weil (oder obwohl) Nena und die Band nirgendwo anecken. Das mag älteren Menschen vielleicht als etwas zu zahm vorkommen, die sich natürlich an eigene wilde Zeiten erinnern, aber jetzt selber zahm geworden sind.
Im Nena-Konzert nehmen geplagte Väter ihre Kinder huckepack auf die Schulter, damit die überhaupt etwas von ihrem Traumbild sehen können. Umstandslos sind die Eltern mit dem einverstanden, wobei sich ihre pubertierenden Kinder austoben - soviel Harmonie zwischen den Generationen ist fast suspekt.
Bei einem Auftritt der Nena-Band geht keine Gitarre auf der Bühne zu Bruch (aber wo passiert das schon noch?), und mit subversiven Frivolitäten ist nicht zu rechnen. Auch der energische Powerpop und die meist makellose Architektur der Songs bleiben immer im Rahmen des Ziemlichen.
Allumfassend scheint die Zuneigung zu sein, die der immer gutgelaunten Nena in der Bundesrepublik entgegenschlägt. Nenas Image ist so clean, daß ein paar Zeitschriften nun nach dunklen Punkten suchen und sie erfinden, weil nichts zu finden ist.
Nena lacht überdurchschnittlich oft und ungebremst. Vielleicht lacht sie stellvertretend für viele, die das Lachen
verlernt haben - sie offeriert den Traum einer immer fröhlichen und dazu auch noch sehr erfolgreichen Existenz.
Dieses Angebot wird in großer Breite angenommen, was sich in nüchternen, aber auch gewaltigen Zahlen ausdrücken läßt: Die erste LP, Titel: »Nena«, erreichte eine verkaufte Auflage von einer knappen Million. Die zweite Platte, mit nur einem Fragezeichen als Titel, ist nach ein paar Wochen bei 445 000 Stück angelangt. Nena-Singles wurden millionenfach verkauft.
Wie Rummenigge hat sich auch Nena zu einem wertvollen Exportartikel entwickelt. Einer der Nena-Songs, »99 Luftballons«, katapultierte die Berliner Nachwuchs-Kapelle an die Spitze der amerikanischen, kanadischen und britischen Hitlisten. In Japan, wo sonst fast nur Japanisches auf Platten geht, steht die neue Nena-LP auf Platz zwei.
Das Lied erzählt von 99 Luftballons, die von Militärs für angreifende Ufos gehalten werden und zum banalen Anlaß für die Weltzerstörung werden. »99 Jahre Krieg/ließen keinen Platz für Sieger/ Kriegsminister gibt''s nicht mehr/und auch keine Düsenflieger/Heute zieh'' ich meine Runden/seh'' die Welt in Trümmern liegen.« _((C) Edition Hate. )
Die Musik des einprägsamen Stücks schrieb Uwe Fahrenkrog-Petersen, 24, der blondgelockte Keyboards-Spieler der Band, den Text Carlo Karges, der Gitarrist und mit 32 Jahren Älteste der Gruppe - eine freundliche Mischung aus Hippie und Rocker und nach den Aktualitäts-Maßstäben der Popmusik eigentlich ein Mann von gestern.
Die Song-Idee ist Karges daher auch bei einem Veteranen-Treffen gekommen, dem Rolling-Stones-Konzert 1982 in der Berliner Waldbühne. Als visuellen Zierat hatten die Stones riesige Trauben bunter Luftballons in den Berliner Himmel geschickt. Da überlegte sich der Musiker: »Was wäre, wenn die Dinger vom Wind rübergetrieben werden in den Osten und dort eine Paranoia auslösen?«
Aber nicht nur »auf die Beziehungen zwischen den Völkern, sondern auch auf diese ganze Paranoia im privaten Bereich« bezieht Karges den Inhalt des Songs. Er will mitteilen, »daß Paranoia unser Leben bestimmt. Die Angst voreinander bringt uns dazu, grausamer miteinander umzugehen, als es nötig wäre. Denn wer zuerst zuschlägt, hat die besseren Karten. Das ist gefährlich.«
Jedenfalls brachte das poetische Paranoia-Stück der Band und ihrer Frontfrau Nena gute Karten beim unaufhaltsamen Aufstieg in die internationalen Hitparaden.
Am Anfang des immensen US-Erfolgs stand die Tat eines anderen berühmten Mädchens aus Deutschland. Als Christiane Felscherinow ("Wir Kinder vom Bahnhof Zoo") sich in Los Angeles aufhielt, drückte sie dem in Kalifornien für seine ausgefallenen Musikprogramme geachteten Rundfunk-Discjockey Rodney Bingenheimer ein Exemplar der »99 Luftballons« in die Hand.
Bingenheimer spielte das Lied (in deutscher Sprache) in seinem Sender;
die Melodie hakte sich so schnell und nachhaltig im Ohr der kalifornischen Hörer fest, daß wegen der großen Nachfrage nun auch andere Radiostationen die »99 Luftballons« steigen lassen mußten. Ohne werbende Rückendeckung des Nena-Plattenkonzerns CBS begann das Stück seinen Weg in die Hitparaden, bevor Popfans in den USA das Mädchen aus Deutschland überhaupt zu Gesicht bekommen hatten.
Als dann der 24-Stunden-Musikvideokanal »MTV« den amerikanischen Teenagern Nena in ihrer ganzen Schönheit mehrmals am Tag in »heavy rotation« präsentierte, war der Erfolg der exotischen Rarität perfekt. Eine Million Nena-Singles wurden verkauft, und eine jetzt auf den US-Markt nachgeschobene LP erreichte in kurzer Frist eine Auflage von 360 000 Exemplaren.
Während Nena und Band zur Zeit in der Bundesrepublik über die Dörfer gehen, warten in den USA Presse, Radio und Fernsehen auf den Nachwuchsstar aus Deutschland. TV-Anfragen nach Nena kommen den Leuten bei der New Yorker CBS inzwischen »zu den Ohren heraus«. Sogar Johnny Carson, der populärste amerikanische TV-Talkmaster, will das frische Girl aus Germany in seiner »Tonight Show« seinem Millionenpublikum vorstellen.
Ein deutscher Platten-Promotion-Mann kann es nicht fassen: »Die könnten sich jetzt da drüben ihre Rente verdienen.« Das US-Branchenblatt »Billboard« artikuliert sich in Nenas Sprache: »Hier wird Deutsch gesprochen«, heißt es da über die »fabulous ''99 Luftballons''«.
Daß der Song »99 Red Balloons« (auf englisch) auch die Popmusik-Bastion Großbritannien nehmen konnte und wochenlang auf Platz eins der Hitlisten thronte, reizte den Londoner »New Musical-Express« zu sarkastischen Bemerkungen: »Nena kam mit ''99 Red Balloons'', einer Waffe, die größere Verwüstungen anrichten kann als die Zeppeline.«
Als Nena in einem Interview mit dem englischen »Melody Maker« angeekelt mitteilte, sie finde »die englische Mode zum Kotzen«, begab sie sich in das Ätzbad britischen Hohns. Eine in Großbritannien soeben veröffentlichte Nena-LP erschien dem Kritiker des »Guardian« kaum empfehlenswert: »Die Dame hat eine exzellente Stimme, aber ihre Musik ist überwiegend so unoriginell wie ihre Band.«
Anders als in den USA, wo Nenas Mainstream-Klänge sogar der Abteilung »New Music« zugerechnet werden, reagieren die Engländer sensibel auf den Mangel jeglicher Überraschungsmomente in der Musik der Nena-Band.
Daß das Quintett auf Nummer Sicher geht und jeder Exzentrik a la Boy George oder gar musikalischen Experimenten eine aggressive Absage erteilt, ist aus seiner Entwicklung zu erklären.
Als die Tochter eines Gymnasiallehrers in Hagen nach Schulabbruch und einer Goldschmiedelehre 1979 in die Lokalband »The Stripes« als Sängerin einstieg, bewegte sie sich als glühender Rolling-Stones-Fan im Rahmen der Konvention. Auf englisch sang sie, passabel, zu einer Musik, die dem Briten-Beat der sechziger Jahre nachempfunden war.
Nachdem die »Stripes« nicht reüssieren konnten und sich 1982 auflösten, ging Nena mit ihrem Freund, dem Schlagzeuger Rolf Brendel, 26, nach Berlin. Sie jobbte bei dem Photographen und Manager Jim Rakete, der schon Nina Hagen und die Altrocker-Band »Spliff« auf die Erfolgsleiter geschoben hatte.
Rakete erkannte das Potential, das in dem ehrgeizigen Mädchen aus Hagen steckte, brachte sie und Brendel mit Karges, Fahrenkrog-Petersen und dem stoischen Bassisten Jürgen Dehmel, 25, einem Meister seines Fachs, zusammen und ließ von den reichlich routinierten »Spliff«-Musikern Reinhold Heil und Manne Praeker die Single »Nur geträumt« produzieren. Das Werk verstaubte zunächst in den Plattenläden;
als deutsche Fernsehzuschauer die fröhliche Frau Kerner dann zum erstenmal ungestüm durch den Bremer TV-»Musikladen« hopsen sahen und der Rockschlager sich auf Anhieb zu einem populären Ohrwurm entwickelte, begann die erstaunliche Serie von Nena-Erfolgen.
Die Medien rissen sich um den unentwegt freundlichen und unbekümmert auftretenden Popstar, und die ständige Fernseh-Präsenz, auch in den bescheuertsten Sendungen bis hin zu Fuchsbergers »Auf los geht''s los«, etablierte das Nena-Quintett als hervorragend verkäufliches Markenzeichen.
Ältere Herren entdeckten beim Anblick der munteren kindlichen Dame ihren Johannistrieb und versetzten sich bereitwillig in die Rolle des Mannes, der Nena im Song »Nur geträumt« so total in eine Gefühlsverwirrung gestürzt hat. Nur geträumt.
Aber erst recht fand das Heer der Teenager und »Bravo«-Leser in den bittersüßen Liebesliedern die eigenen Pubertäts-Melancholien wieder. Das ewige Verknallen und der folgende Trennungsschmerz, Unsicherheiten und der ganze Gefühlswirrwarr kamen in den Nena-Songs ohne die üblichen Schlagerlügen fürs Teenagerpublikum zur Sprache. Der zupackende, etwas altbackene Rock ''n'' Roll der Band wurde auf heutige Bedürfnisse der Disco-Freaks zugeschnitten und konnte auch Erwachsene nicht verstören.
Daß Nena mit ihren eigenen Fähigkeitten längst nicht rundum zufrieden ist, zeigte sich eine knappe Woche vor Tourneebeginn in Kaiserlautern. Als sie sich die Video-Aufzeichnung eines Nena-Konzerts ansah, sank sie kurzfristig in Verzweiflung: »Ich werd''s nie lernen.«
(C) Edition Hate.