POPMUSIK Abenteuer im Gehirn
Von Elektronik-Gewittern umtost, robbt ein beulenbesetztes Monster ins Bühnen-Flackerlicht. Es tanzt, gestikuliert, singt: Unter der eklig gelben Maske verbirgt sich Peter Gabriel, 25, Sänger und Songtexter der englischen Rockband »Genesis«.
Ansonsten jedoch führt Gabriel in seiner neuen Show »The Lamb Lies Down On Broadway«, mit der er gegenwärtig drei Monate lang durch elf europäische Länder zieht, erstaunlich wenig Kostüme und Requisiten vor. Pickelhaube, Dornenkrone und Federbuschhelm, unter denen er noch vor einem Jahr seine surrealistischen Verse herausschleuderte, ließ der führende Popmusik-Theatraliker diesmal daheim.
Hinter den Instrumenten hat die Band eine riesige, dreigeteilte Leinwand gespannt, auf der die Handlung des 90-Minuten-Oratoriums mittels Dia-Projektionen illustriert wird. Die zum Teil abstrakten Photomontagen mit der (parallel zur Tournee auch in einem LP-Doppelalbum veröffentlichten) Song-Story in Beziehung zu setzen, erfordert höchste Konzentration.
Denn die Abenteuer von Gabriels Hauptfigur Rael, eines jungen Puertoricaners in New York, vollziehen sich lediglich in dessen Gehirn: Er fühlt sich in einen Kokon eingesponnen und von Verpackungsmaterial umstellt, irrt durch endlose Tunnel und Korridore, wird in Kerkern und Katakomben gequält. Manchmal ähnelt Rael dem Helden des »Ulysses' von James Joyce, dem die Wirklichkeit zu einem Strom isolierter Sinneseindrücke zerrinnt; manchmal gleicht seine Psycho-Odyssee der vergeblichen Wahrheitssuche des Josef K. aus Kafkas »Prozeß«.
Nichts ist greifbar: Groteske Reptilien mit Schlangenkörpern und Frauenbrüsten glitschen ihm durch unterirdische Wasserläufe davon; Verrückte zerfließen zu konturlosen Glibberwesen; sein mit der Ziffer 9 auf der Stirn gestempelter Bruder John, den er vor dem Ertrinken rettet, ist er selbst.
In »Tommy« und »Quadrophenia«, diesen beiden bislang einzigen mit dem »Genesis«-Opus vergleichbaren Rock-Werken (von Pete Townshend und der Band »The Who"), taumelten die Helden durch zwar bedrohliche, aber zeitlich und räumlich immer noch reale, überschaubare Szenerien. In »The Lamb Lies Down On Broadway« dagegen dehnt und verkürzt sich die Zeit, vertauschen sich fortwährend die Räume wie in Lewis Carrolls Kunstmärchen »Alice im Wunderland«.
Auch Peter Gabriel möchte »ein Märchenerzähler« sein, der »das Publikum in eine total integrierte Phantasiewelt entrückt«. Dazu bedient er sich neben Text und Musik nun zunehmend optischer Signale. Auf seiner Super-Breitwand wechseln, rhythmisch geschnitten oder raffiniert überblendet, medizinische Gewebeschnitte, Gesteinsformationen' Artefakte und City-Impressionen einander ab. Manche Bildfolgen -- Totenschädel, Autowracks, geschlossene Türen und Darstellungen aus dem Anatomiebuch -- erinnern an Assoziationsketten von der Psychiater-Couch' vermitteln Gefühle von Ohnmacht und extremer Gewalt.
Als »Genesis« diese Show kürzlich in zwei Vorab-Konzerten in Hannover und Berlin darbot (die Band kommt nächste Woche zu zehn weiteren Vorstellungen in die Bundesrepublik), reagierten die Besucher zeitweilig wie gelähmt. Kaum ein Fan verließ vorzeitig die Hallen, obgleich die elektronischen Klanggespinste und die Rezitativgesänge alles andere als eingängig sind.
Seit etwa fünf Jahren hat das englische Quintett versucht, seine komplizierten Kompositionen und die »Nursery Cryme« (LP-Titel)-Grusellyrik durch theatralische Bühnenaktionen über die Rampe zu bringen. Daß Gabriel und seine Freunde
das Theaterspielen nun zugunsten des Projektors wieder reduzieren, liegt wohl vor allem an der szenischen Beschränktheit sämtlicher Rock-Horror-Shows. Die Gags, meint Komponist und Organist Tony Banks, lenkten vom Inhalt der Songs ab: »Das Publikum kam nur noch wegen der Effekte; wir entwickelten uns zur Zirkusattraktion.«
An diesem Zirkus jedoch ist ein Großteil der »Genesis«-Kundschaft unverändert interessiert. Der meiste Beifall kommt auf, wenn Peter Gabriel nach der komplexen »Lamb«-Suite mit Fledermausflügeln am Kopf oder in der vertrauten Greisen-Maske die Glanznummern von gestern als Zugaben ankündigt: etwa die gräßliche Geschichte von der kleinen Cynthia, die den Kopf des achtjährigen Henry mit dem Krocketschläger in die Music-Box katapultiert.