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MUSIK Abschied vom Hochamt

Früher machten Konzerte vor allem Spaß: Zu Serenaden und Sinfonien wurde getratscht, getafelt, gehäkelt und geflirtet. Steht das klingende Entertainment vor einem Comeback?
Von Klaus Umbach
aus DER SPIEGEL 53/2004

Frisch gebadet, fein gemacht und hochgestimmt strömen sie herbei, nehmen Platz und harren der Dinge: Abend für Abend versammeln sich die klassischen Konzertgänger allüberall zur philharmonischen Andacht.

Es sind Feierstunden nach Maß und auf die Minute. Denn kaum ist der schwarzbefrackte Künstler unter schicklich bemessenem Beifall in Erscheinung getreten, verdimmen die Lampen, und die Gespräche verstummen. Ein letztes Hüsteln im Publikum, dann kehrt Ruhe ein, schließlich Mucksmäuschenstille. Totenstille.

Denn mit dem ersten Ton hebt ein Ritual von feierlicher Öde an. Dieses Hochamt der erhabenen Langeweile hat sich in den letzten 150 Jahren ausgebildet, eingebürgert und verkrampft. Die Programmfolge eines Konzertabends steht fast immer Monate, nicht selten Jahre im Voraus fest. Werke der Neuen Musik werden kaum je an den Schluss eines Programms gesetzt, um ein vorzeitiges Abwandern der Traditionalisten zu verhindern. An der betulichen Programmfolge Ouvertüre, Solistenkonzert und Sinfonie wird nur ungern gerüttelt. Um Störungen während der Kunstpflege, etwa durch außerplanmäßigen Beifall, gar nicht erst aufkommen zu lassen, wird wildes Klatschen durch wütendes Zischen niedergemacht. Bloß kein Scherzando!

Der Konzertbetrieb sei längst ein »skurriler Zirkus«, der Flügel komme ihm »immer wie ein Leichenwagen« vor und das Publikum wie ein »neurotisch-hysterischer« Haufen, ketzerte der französische Starpianist François-René Duchâble. Er sei es endgültig leid, »tote Musik für halb tote Zuhörer« zu spielen, und floh letztes Jahr nach einer brillanten Karriere mit grellem Aplomb von der Bühne.

Mit seiner Diagnose, die »Müdigkeit des Publikums« sei »angesichts eines ständig schrumpfenden Repertoires unverkennbar« und das öffentliche Konzert längst »zu einer Art Kunstreligion« mit »ritualisierter Selbstdarstellung« pervertiert, stichelt der renommierte Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann gegen die philharmonischen Erbauungsstunden.

In Zukunft, so der streitbare Harvard-Professor, werde der Klassikhörer »nicht mehr zu Konzentration und Kontemplation« »gezwungen«, sondern könne am heimischen Equipment »individualistischprivat« schalten und walten. Dazu seien »die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten Formen einer öffentlichen bürgerlichen Musikkultur grundsätzlich nicht mehr nötig«.

Vielleicht sind sie nicht mal mehr möglich. Jedenfalls malten amerikanische Kritiker, die vergangenen Sommer in Aspen, Colorado, zehn Tage lang über die Zukunft der klassischen Musik orakelten, die Szene in Moll aus.

Kyle MacMillan beispielsweise, der Musikmann der »Denver Post«, hielt die gewohnten sinfonischen Feierabende, bei denen dunkel gewandete Herrschaften in gedämpftem Licht und stummer Ehrfurcht klingende Antiquitäten bestaunen, für überholt und überlebt.

Ja, geht es vielleicht auch anders, weniger steif, weniger altbacken? Und ob. Leider, bedauert der Düsseldorfer Musikkritiker Wolfram Goertz in seinen »Glossen zur Klassik in der Krise«, liebten die Philharmonie-Gänger immer noch »die Unbeweglichkeit, das Museum, die Vitrine": »Ein Konzert genießt man mit ernstem Gesicht, Spaß ist eine Ausnahme.«

Dabei hat der streitbare Kritiker durchaus ein paar Tipps in petto, wie die klassische Feinkost findig und pfiffig aufgemischt werden könnte. »Kammerkonzerte« beispielsweise könnten »ins Schwimmbad, ins Amtsgericht, in den Bahnhof« verlegt werden, »die Nutzeffekte eines Ortswechsels« seien »gewaltig«. Das strenge »Applausverbot zwischen den einzelnen Sätzen« einer Sinfonie sei »völlig unhistorisch« und die traditionelle Trennung nach Gattungen und Stilen engstirnig: »Ein Konzert, in dem man Popmusik hören könnte und Klassik und Jazz - warum denn nicht?«

Ja, warum denn nicht E und U mal richtig aufmischen? Die steifleinenen Programmfolgen fetzig beleben? Bravo rufen, wann immer den Hörern danach ist? Alles das, was einmal gang und gäbe war und vielleicht auch heute, vernünftig dosiert und taktvoll arrangiert, den Konzertsaal wieder in Schwung bringen könnte?

Bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, als sich mit dem tauben Tonsetzer Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827) auch das gusseiserne philharmonische Ritual durchzusetzen begann, waren E-musikalische Darbietungen, auch solche mit Anspruch, meist ein schillernder Mix aus Kunstgenuss und Lebensfreude.

Die »Allgemeine Musikalische Zeitung« ("AMZ") empfahl noch 1837 eine süffige Rezeptur gegen die philharmonische Eintönigkeit: »Im Concerte mache eine kräftige Ouvertüre oder der erste Satz einer Sinfonie den Anfang. Nun trete der Concertist auf, in dessen Vortrag durch Solo's und Tutti's schon Abwechslung liegt. Ihm folge ein Gesangstück, Scene oder Ensemble, am liebsten für's Concert geschrieben. Lieder, Romanzen im beliebten französischen Nasenton, Barcarolen, Kuhhirtenlieder aus Tyrol gehören nicht ins Concert, wenn man es nicht herabwürdigen will.«

Der zweite Teil »beginne mit dem Mittelsatz einer Sinfonie und dazu gehörigem Allegro, oder, wenn man will, zur Abwechslung einem Ensemble für Blas- und Streichinstrumente, wie Beethoven's Septette und Sextette. Nun komme weiter ein Gesangstück, am liebsten eine Arie, zum Ausruhen vom Instrumentenspiel. Zum Schluß käme am zweckmäßigsten der rauschende Schlußsatz einer Sinfonie. Allein da die Eitelkeit des Concertisten verlangt, daß er den letzten Eindruck mache, so sei ihr nachgegeben.«

Ganz nach dem Gusto der anwesenden Herrschaften verlief auch das sinfonische Drumherum. Vielerorts, berichtete die »AMZ«, würden »sich die Herren verkehrt zum Podium den Damen zugewandt setzen«. 1882 rügte die »Westfälische Zeitung« in Dortmund, dass »einzelne Personen es absolut nicht unterlassen können, selbst bei dem Vortrage der feinsten Konzertstücke der lebhaftesten Unterhaltung zu pflegen«. Noch der Berliner Kapellmeister Benjamin Bilse (1816 bis 1902) dirigierte sein 70-Mann-Orchester, immerhin Vorläufer der Berliner Philharmoniker, vor essender und rauchender Hörerschaft.

1886 meldete die legendäre »Gartenlaube«, es sei schon »ein eigenthümlicher Anblick, wenn man während der C-Moll-Symphonie Beethoven's ringsherum Gänseklein, Hühnerfrikassee, ja sogar Klappstullen mit duftendem Harzer Käse verzehren sieht; geräuschlos gleiten Gabel und Messer durch Schnitzel und Koteletten, so geräuschlos wie die stählernen und hölzernen langen und kurzen Nadeln in den Händen der Damen, die, der Musik lauschend, endlose Tischläufer, zierliche Theeservietten, warme wollene Capuchons und Schlummerrollen entstehen lassen«.

Ganz so duftig und zirzensisch wird der philharmonische Alltag wohl nie wieder werden, und, ehrlich, es ist nicht schade um ein Beethoven-Publikum mit Harzer Käse.

Aber ein paar Saitensprünge aus dem ewigen klassischen Gleichschritt könnten dem Konzertbetrieb nur gut tun. Schließlich versuchen auch engagierte Tonkünstler immer wieder, den weihevollen Muff der Philharmonien auszuräuchern - mal mit Takt, mal als grober Poltergeist.

Der amerikanische Allrounder Bobby McFerrin, 54, wurde als Hit-Maker populär ("Don't Worry, Be Happy"), macht inzwischen aber auch als singender, summender und dirigierender Mozart-Pianist Spaß und ist neuerdings selbst bei den Wiener Philharmonikern willkommen. Auch der schrille Punk-Geiger Nigel Kennedy, 47, hat die schöngeistige Innerlichkeit gehörig geschmirgelt und das solide Recital in eine poppige Session verwandelt.

Der Wiener Pianist Friedrich Gulda (1930 bis 2000) dagegen tat seine Abscheu vor dem »morbiden und aufgeblasenen Kulturbetrieb« drastisch kund: Der Großteil der klassischen Hörerschaft setze sich aus »scheißreaktionären Künstlerlemuren« zusammen, aus »Weihe-Idioten« und aus »Arschlöchern«. Doch sobald dieser Gulda die Preziosen der Wiener Klassik ertastete, fielen die Klavierfreaks auf die Knie.

Eine besonders aparte Spielart des gängigen Konzerttyps ist inzwischen dem famosen US-Dirigenten David Zinman, 68, geglückt: Als Chef des Tonhalle-Orchesters Zürich veranstaltet er seit November 2002 regelmäßig »tonhalle LATE«, ein Nachtprogramm in radikalem Crossover, und dieser Zwitter, trommelte die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, sei das »Musikleben der Zukunft«.

Da spielt Zinmans traditionsreicher schwyzerischer Klangkörper zum Auftakt, sagen wir, von Richard Strauss »Till Eulenspiegels lustige Streiche« oder von Mahler die vierte Symphonie. Nach rund einstündiger klassischer Einstimmung werden dann Konzertfoyer und Vestibül in Dancefloor und Chill-out-Lounge verwandelt, der Maestro macht Platz für DJ Ajele oder DJ Minus 8, und dann ist nur noch Party. KLAUS UMBACH

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