GESCHICHTE Abschied von Ranke
Zu den Vorzügen der nunmehr abgeschlossenen Propyläen Geschichte Europas gehört, daß die Autoren ihre Leser -- und das sind keineswegs nur sogenannte Fachgenossen -- mit völlig verschiedenen Ansätzen von Forschung und Geschichtsschreibung bekannt gemacht haben.
Da gibt es die ästhetisch brillierende Porträt-Kunst Hellmut Diwalds, die so gut zum Renaissance-Skeptizismus von Masse und Macht paßt -- und zum Verdikt über jede Art soziologischer Analyse. Da meldet sich mit Robert Mandrou die strukturelle Methode der französischen Sozialhistorie zu Wort und überzeugt mit einem -- in Paris bereits preisgekrönten -- Werk über Europas Entwicklung vom Westfälischen Frieden bis zum Vorabend der Revolution.
Da offenbart Politologe Karl Dietrich Bracher das leidenschaftliche Engagement der Zeitgeschichte, die im Meinungsstreit über das eigene Jahrhundert unmittelbar Partei ergreift. Da beeindruckt die Distanz des Katholiken Ernst Walter Zeeden, der in einer fast schon nachchristlichen Ära Reformation und Gegenreformation mit sensibler Sachlichkeit, ohne konfessionelle Polemik, beschreibt.
Und da erscheint zum Abschluß gleichsam ein Dioskuren-Paar. das die verborgene Einheit von klassisch-politischer und modern-sozialer Geschichtsschreibung an den Tag bringt: der 70jährige Kölner Emeritus Theodor Schieder und der 52jährige Münchner Ordinarius Eberhard Weis.
Allerdings betreibt Weis auch eine Sozialhistorie, der es genauso wie der klassischen Politikhistorie um die großen Zusammenhänge, die Gründe und Hintergründe der wirklichen Geschichte geht -- und nicht um Ideologie. Marxistische Dogmen sind seine Sache nicht, ebensowenig aber der konservative Vorrang von Staat und Politik.
An ihm hält Altmeister Schieder fest, der wohl letzte deutsche Historiker aus der Tradition Leopold Rankes. Dessen klassische Kategorien, also Staat, Politik, Diplomatie (neben dem religiösen Prinzip), bleiben für ihn bestimmend, auch wenn er jeder Ideologisierung der Politik widerstrebt.
So verwirft Schieder auch Rankes Primat der Außenpolitik als.« Schutzformel« für die innere Ordnung der Restauration -- jener Epoche nach 1815, als Metternich und die Heilige Allianz Europas Völker unter Kuratel hielten.
Schieder läßt dabei unerwähnt, daß die sogenannte Schutzformel mehr bedeutet hat als eine reaktionäre Rechtfertigung des Bestehenden. Sie spiegelt ebenso die Herrschaft einer Politik der Staatsräson und deren klassischer Diplomatie von Richelieu bis zu Bismarck. Auch ist ein Staat wie Preußen, ein willkürliches Kunstprodukt über drei große Stromsysteme hinweg, nur dank jenem Primat auf die Dauer lebensfähig gewesen.
Die autonome Außenpolitik der Staatsräson spielt Schieder dann auch selber gegen die linke These vom Primat der Innenpolitik bei Bismarck aus. Für ihn ist die Außenpolitik des Reichskanzlers nach 1871 »pragmatische Sicherheitspolitik eines als innere Einheit aufgefaßten Staates«, und nicht etwa eine »nach außen projizierte Gesellschaftspolitik«. die lediglich be-
* Im damals französischen Hamburg 1810.
stimmte Klasseninteressen und Klassenideologien vertrat.
Folgerichtig spricht Schieders Bismarck-Darstellung -- neben der Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkriegs der Höhepunkt seines Werkes -- von einer »gesamtpolitischen Staatsräson« des Kanzlers, die konsequent an »einer an der Macht orientierten, unideologischen Staatspolitik« festgehalten habe.
Wie viele Konservative, auch Frankreichs bedeutendster Soziologe Raymond Aron, bleibt Schieder vom historisch-faktischen Primat des Politischen als Primat des Staates überzeugt, und zwar ganz konkret in Gestalt des politisch-staatsmännischen Handelns.
Jeder Soziologismus hingegen, der an die Allmacht der Gesellschaft über Leben, Denken und Tun der Menschen glaubt und linker Sozialhistorie als Richtschnur dient, bleibt Schieder fremd. Für ihn steht unumstößlich fest: »Politik zwischen Staaten ... ist keine Auseinandersetzung lediglich von Strukturen, die Menschen nur als Marionetten agieren lassen.«
Daß die Menschen lediglich als Marionetten des Weitgeistes oder der Politökonomie in der Geschichte umhertappen, lehnt auch Professor Weis ab, ein Schüler Franz Schnabels und seit 1974 auf dessen ehemaligem Lehrstuhl.
Weis mißtraut nun einmal den Gedankenmagiern und deren Adlerblick aufs Menschengewürm. So marschiert hei ihm die Sozialhistorie auch nicht in dialektischem Stechschritt unter dem Banner historischer Notwendigkeit durch die Jahrhunderte. Sie erweist sich vielmehr als eine höchst behutsame Diagnostik und Kombinatorik der jeweils maßgebenden Kräfte und Tendenzen in der Gesellschaft.
Was damit gemeint ist -- die Ablehnung doktrinärer Pauschalurteile und die präzise Erforschung der sozialen Bewegungsenergien -, wird daran deutlich, wie Weis den Gemeinplatz zurückweist, die Französische Revolution sei der Sieg des Kapitalismus über den Feudalismus gewesen.
Denn wie die neueste französische Geschichtsschreibung, etwa Francois Furet, begreift auch Weis diese Revolution als Resultat einer »Modernisierungskrise« und nicht eines Kampfes zwischen ökonomisch bereits scharf geschiedenen Klassen.
Er schreibt: »Umgekehrt verhalf die Französische Revolution dem Kapitalismus keineswegs unmittelbar zum Durchbruch. Sie verzögerte ihn sogar durch die Kriege, die Prohibitionszölle gegen England, denen unter Napoleon die Kontinentalsperre folgte, durch die Konsolidierung des Mini-Eigentums an Grund und Boden und »durch die Stärkung dessen, was die alte französische Gesellschaft an fundamental Bäuerlichem und Militärischem enthalten« (F. Furet) hatte.«
Diese Art sozialhistorischer Kaleidoskop-Kunst kommt ohne Rekurs auf sakrosankte Alleinursachen, kommt ohne ideologischen Kahlschlag aus. Vielleicht ergibt sich eben daraus bei Weis ein Epochenbild von erstaunlicher Lebendigkeit und Vielfalt -- mag es sich nun um die sozialhistorische Rolle der differenzierten Agrarstrukturen Europas, um die fast schon revolutionäre Reformpolitik des aufgeklärten Absolutismus oder auch um die Nachwirkungen der Napoleonischen Ära auf den Kontinent handeln.
Wie sehr sich hingegen Napoleons Lebenskampf gegen England noch immer von den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts unterschieden hat, erhellt Weis blitzartig: Trotz des Krieges und der Kontinentalsperre gegen britische Waren -- die oft als Schmuggelgut verbrannt wurden -- exportierten Frankreich und die Niederlande in der britischen Wirtschaftskrise seit 1808 Getreide auf die Insel. Napoleon ließ es sich im Tauschhandel mit Kolonialwaren und Eisen bezahlen.
Im Ersten Weltkrieg hingegen erklärte Großbritannien seit November 1914 die Nordsee zum Blockadegebiet und unterband damit so gut wie alle Lebensmittelzufuhren aus Übersee nach Deutschland.
In dieser Haltung Großbritanniens äußert sich laut Schieder das Resultat einer europäischen Dauerkrise: die Verwandlung der alten Gemeinschaftlichkeit Europas in ein »die Rationalität ... zerstörendes Freund-Feind-Denken«.
Doch seit dem Ersten Weltkrieg ist jenes Schicksal Europas zum Verhängnis der ganzen Menschheit geworden -das lehrt, meint Schieder, »die seitherige Geschichte«. Trotzdem verzweifelt der gelassene Konservative nicht. Wie einst Ranke, wie Aron und Kissinger verteidigt auch er die Diplomatie als das bislang immer noch wirksamste Mittel der Krisenbewältigung. Aber Schieder weiß auch mit dem Metternich-Gehilfen Friedrich von Gentz: Die Diplomatie ist der einzige Zufluchtsort, »der uns bei der erwiesenen Unausführbarkeit aller anderen Pläne zur Friedensgarantie in unserer traurigen Hilflosigkeit noch übriggeblieben ist.