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MAHLERS UNVOLLENDETE Ach, Almschi

aus DER SPIEGEL 2/1961

Die achtundneunzig Doppelseiten der handgeschriebenen Partitur bieten ein beinahe chaotisches Bild. Über lange Passagen sind die Noten nur skizzenhaft und hastig angedeutet, an anderer Stelle verbessert oder mit wütendem Stift ausgestrichen. Bögen und Klammern sollen umgruppieren oder die Reihenfolge verändern.

So ist das Schriftbild der Zehnten Symphonie des österreichischen Komponisten Gustav Mahler (1860 bis 1911), die unvollendet blieb. Dreizehn Jahre nach Mahlers Tod wurde mit Erlaubnis der Witwe Alma Mahler - die inzwischen mit Walter Gropius verheiratet gewesen war und später Franz Werfel angetraut wurde - ein Faksimile der Symphonie gedruckt.

Das Musikstück, schrieb damals der Mahler-Freund Richard Specht in einer Einführung, »harrt des Bearbeiters und Ergänzers«. Zwei fast komplette Sätze immerhin - der erste (Adagio) und der dritte (Purgatorio) - wurden schnell aufführungsreif gemacht* und sind seitdem von Zeit zu Zeit in Konzertsälen gespielt worden.

»Wenn man aber nur diese zwei Sätze kennt, fehlt der Schlüssel zu dem Werk«, überlegte der 41jährige englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke. »Es ist, als ob man eine Beethoven-Symphonie nur nach ihrem ersten und ihrem langsamen Satz beurteilen würde.«

Cooke machte sich also daran, das nachgelassene, verwirrende Manuskript zu enträtseln und nach bestem Wissen im Geiste des Autors abzurunden. Er verhalf so, knapp fünfzig Jahre nach ihrer Niederschrift, Mahlers Unvollendeter zur Uraufführung: Ende des abgelaufenen Jahres wurde sie in einem Studio der British Broadcasting Corporation vor wenigen geladenen Gästen zum ersten Male gespielt. »Eine phantastische Leistung musikalischer Detektivarbeit«, anerkannte der »Daily Express«, und die »Times« lobte, besonders der »aufs höchste bewegende« fünfte Satz sollte »wieder und wieder gespielt werden«.

Der englische Mahler-Spezialist Deryck Cooke hatte die Entzifferung der wirren Partitur übernommen, weil er der Ansicht ist, daß dem jeweils letzten Werk jedes nennenswerten Komponisten besondere Bedeutung zukomme: »Fast immer ist es ein charakteristischer Schlußkommentar fürs Leben.«

Cooke: »Beethovens letztes Quartett zum Beispiel endet mit scherzender Hinnahme des Schicksals.« Mahlers letzte vollendete Symphonie aber, die melancholisch-resignierende Neunte, lasse »unbequeme Fragen« offen: »Konnte dieser mutige Geist, der ebenso ungestüm wie Beethoven gegen das Schicksal anrannte, gebrochenen Herzens mit dieser Anerkennung der Niederlage enden?«

Ganz so ungestüm war Mahler in diesen Jahren allerdings nicht mehr. Bereits sein »Lied von der Erde«, ein Orchester-Werk mit Gesang, hatte er ausdrücklich und abergläubisch nicht als Symphonie ausgegeben, obwohl ihm klargeworden war, daß es im wesentlichen wie eine Symphonie geformt war. Alma Mahler-Werfel in ihrer Autobiographie (SPIEGEL 1-2/1960): »Es wäre seine Neunte gewesen, und weder Beethoven noch Bruckner haben ihre Neunten überlebt. Später, als er seine Neunte Symphonie schrieb, sagte Mahler zu mir: Tatsächlich ist es die Zehnte, die Neunte ist das Lied von der Erde.' Er glaubte, er habe den lieben Gott überlistet.«

Die Musikwissenschaft folgte aber der ursprünglichen Numerierung - mit dem Ergebnis, daß nun auch er, wie Bruckner und Beethoven, nur neun vollendete Symphonien hinterließ. Als er die Zehnte begann, die eben in Cookes Bearbeitung uraufgeführt worden ist, war Mahlers unternehmungslustige Frau Alma in einem Sanatorium auf den Architekten Walter Gropius gestoßen den Begründer und Leiter des »Bauhauses« -, der nach Almas Abreise einen glühenden Liebesbrief aus einem bis heute ungeklärten Grund nicht an Alma, sondern an »Herrn Direktor Mahler« adressierte.

Wutbebend, nun auch »eifersüchtig auf jedermann und alles« (Alma Mahler), oft unfähig zur Konzentration, geplagt von Depressionen, Zornanfällen, Schuldgefühlen, arbeitete Mahler an der Partitur. Im Winter 1910 auf 1911 fuhren die Eheleute nach Amerika, wo Mahler mehrere Konzerte dirigierte und zusammenbrach - an einer Streptokokken-Infektion, die ihn fast völlig lähmte. Nicht lange nach der Heimkehr, in den letzten Monaten gekleidet, ja gefüttert von Alma, starb Mahler.

Die hinterlassene Partitur der Zehnten Symphonie kennzeichnet die Stimmungen, in denen Mahler zuletzt gearbeitet hatte: In handschriftlichen Anmerkungen tat er seine pathetischen Proteste kund und fixierte seine Resignationen. »Erbarmen!« steht neben dem zweiten Satz, und »O Gott! O Gott! Warum hast Du mich verlassen?« Fünf Takte später: »Dein Wille geschehe!!«

Auf das Titelblatt des vierten Satzes schrieb Mahler: »Der Teufel tanzt es mit mir. Wahnsinn packt mich an, Verfluchten! vernichte mich, daß ich vergesse, daß ich bin! daß ich aufhöre zu sein.«

Andere Randnotizen gelten seiner Frau: »Ach! Ach! Ach!« klagt er auf einer der letzten Partitur-Seiten. »Leb wol, mein Saienspiel! Leb wol, leb wol, leb wol.« »Saitenspiel« hatte er oft seine Frau genannt, an die er auch in der Schlußzeile der Partitur dachte: »für Dich leben! für Dich! Almschi!«

Aus seinen letzten Äußerungen ist nicht zu erkennen, wie Mahler sein Werk beurteilte: Manchmal ordnete er an, die Partitur solle verbrannt werden. Zu anderen Zeiten widerrief er diesen Wunsch.

Die Partitur blieb erhalten - freilich in einem so wirren Zustand, daß Cooke lange brauchte, um das fast Unentzifferbare zu enträtseln. Cooke sah »pietätvoll« ("Times") davon ab, Mahlers Werk zu »ergänzen«. In den beiden Scherzi, die den zweiten und vierten Satz ausmachen, ließ er statt dessen Lücken - die längste von 160 Takten. Auch so war der fragmentarischste dieser Sätze, der zweite, immerhin »zu 80 Prozent Mahler« (Cooke).

Die Hauptarbeit machte die Orchestrierung, und hier Mahlers Ansichten zu erraten, war nach Cookes Angabe für einen Kenner seines Werks nicht allzu schwierig. Der Österreicher Mahler habe auf diesem Gebiet »eine unvergleichliche Fähigkeit lebendiger innerer Klangvorstellung, eine erlesene koloristische Begabung« gehabt, wie es Mahlers Jünger, der Dirigent Bruno Walter, ausdrückte. Cooke: »Mahler 'orchestrierte' seine Musik ebensowenig, wie es Berlioz, Wagner, Sibelius und andere taten - er erdachte sie direkt fürs Orchester."*

Bevor jetzt das Londoner Philharmonia-Orchester unter dem einst aus Deutschland emigrierten Dirigenten Berthold Goldschmidt im Dritten Programm der BBC Mahlers »Unvollendete« zum ersten Male spielte, erläuterte Cooke in einem Vortrag, wie er Hörner und Flöten, Geigen, Celli und Trommeln verwendet habe, um Mahlers vermutete Absichten zu verwirklichen. Bei einer Stelle des letzten Satzes etwa, bei der Mahler nur die Oberstimme für Violinen und einen einzigen Ton für die Begleitung angegeben hatte, erinnerte sich Cooke an »einen ähnlichen Fall« in Mahlers Sechster Symphonie, ergänzte nach diesem Vorbild und fügte, da Mahler hier »fortissimo« vorgeschrieben hatte, noch andere Instrumente in der charakteristischen Art Mahlers ein.

Die einstündige Aufführung der von Cooke erarbeiteten Fassung beantvortete Cookes Frage, ob Gustav Mahler sein letztes Werk mit der »Anerkenung der Niederlage« geendet habe. »Die Zehnte Symphonie«, faßte die »Times« zusammen, »beginnt mit dem fragenden, quälenden Adagio, das oft gespielt wird«, und endet »mit dem mächtigen, selbstgewonnenen Sieg über vergänglichen Schmerz«, wobei »die Seele zu den Höhen reinsten Glücks schwebt«.

Diesen Sieg erreicht Mahlers »Unvollendete« in Cookes Fassung freilich erst nach einem verzweifelten vierten Satz - »ohne Menschenlaut«, hatte schon 1924, Richard Specht geschrieben. Ein melancholisches Thema, von Keulenschlägen unterbrochen, steht gegen ein simples Walzer-Motiv. Der Satz endet nach einem Takt Pause mit einem Entsetzens-Schlag auf gedämpfter Trommel. Mahler hatte diesen Ton zufällig in New York beim Begräbnis eines Feuerwehrmanns gehört.

Mit dem gleichen Schlag beginnt der letzte Satz, der sich aber über ein Rondo und viel andere »Seelen-Mahlerei« (Cooke) zu freundlich-fröhlicherer Gelöstheit aufschwingt. »Im Gegensatz zum Ende des 'Lieds von der Erde' und der Neunten Symphonie«, interpretierte der Bearbeiter Deryck Cooke, »ist diese Musik nicht ein Ade, sondern eine Art Segnung.«

Cooke hatte alles in allem ein volles Jahr an der »Unvollendeten« gearbeitet. Dann allerdings hatte er es eilig, eine Aufführung zustande zu bringen. »In der Vergangenheit hat niemand versucht, das Werk zu entschlüsseln und aufführungsreif zu machen«, erläuterte er. »Aber wie ich vor kurzem gehört habe, arbeiten jetzt drei oder vier andere Leute gleichfalls daran.«

* Als Bearbeiter galt allgemein der Komponist und Schwiegersohn Mahlers, Ernst Kienek, der aber diese Lesart dementiert.

* Deryck Cooke: »Gustav Mahler«, Vorwort von Bruno Walter. Verlag BBC, London; 47 Seiten; 5 Shilling.

Komponist Mahler

Den Tod zu überlisten

Witwe Alma Mahler

»Leb wol, mein Saitenspiel«

Cooke

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