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MEDIZIN Achtspurig ins Gehirn

Weithin ratlos stehen bisher Mediziner und Psychiater vor sogenannten autistischen Kindern. Eine neuartige Therapie für die bizarre Verhaltensstörung wurde in den USA erprobt.
aus DER SPIEGEL 45/1975

Sie sprechen mit niemandem, sie hören nicht zu, sie lassen sich nicht berühren. Für ihre Eltern sind diese Kinder, die wie hinter einer imaginären Glasscheibe in sich selbst verkrochen leben, unheimliche Fremdlinge.

Psychiater und Kinderärzte sprechen von »frühkindlichem Autismus"* und reihten das mysteriöse Fehlverhalten

von griech. »autos« = selbst.

bislang unter die schweren Geisteskrankheiten ein. Mit den Mitteln der modernen Psychiatrie, mit Psychopharmaka und Diättherapie, mit Psychoanalyse und verhaltenstherapeutischem Training versuchten sie, die gestörten Kinder aus ihrer angstbesetzten Ichversponnenheit in die Realität zurückzuholen -- ohne nennenswerten Erfolg.

Neue Erkenntnisse über die mutmaßlichen Ursachen der Störung gewann in den letzten Jahren der amerikanische Psychologe und Pädagoge Carl H. Delacato, 52, am »Institute for the Achievement of Human Potential« in Philadelphia. Delacato entwickelte erste Ansätze zu einer Methode, autistische Kinder aus ihrem inneren Gefängnis zu befreien.

In einem aufsehenerregenden Forschungsbericht, der nun auch in deutscher Sprache erschienen ist, belegt Delacato seine These, daß frühkindlicher Autismus keine Geisteskrankheit, sondern Folge einer Hirnschädigung sei, für die nach neuesten Erkenntnissen Heilungschancen bestehen**.

Bislang hatten Experten wie etwa der amerikanische Kinderpsychologe Leo Kanner beispielsweise angenommen, die Krankheit werde durch besonders gefühlskalte Eltern ausgelöst. Das »Leben im Eisschrank« (Kanner), so die Hypothese, bringe einen erblichen »Autismusfaktor« zum Tragen und führe so zu der Verhaltensstörung. Andere behaupteten gar, Atemnot beim Stillen an einer zu fleischigen Brust sei Ursache des Leidens.

Delacato hingegen führt die mysteriöse Krankheit allein auf schwere Störungen im Wahrnehmungsapparat zurück. Das bizarre und oft selbstzerstörerische Verhalten der Kinder. behauptet er, sei »der Versuch«, durch häufige, wiederholte Reizung »die ge-

* Mit Schutzhelm, um Selbstverstümmelungen zu vermeiden.

** Carl H. Delacato: »Der unheimliche Fremdling -das autistische Kind. Hyperion-Verlag, Freiburg im Breisgau; 200 Seiten; 30 Mark.

störten Sinnesbahnen zu normalisieren«.

Während die Autismus-Forscher bislang vor allem über die Tendenz zu Selbstisolierung und die fehlende Sprache dieser gestörten Kinder nachgegrübelt hatten, richtete Delacato als erster sein Augenmerk auf die sogenannten Autismen, jene scheinbar sinnlosen, stereotypen Spiele, die solche Kinder gleichsam im Leerlauf unablässig wiederholen: Sie schaukeln mit dem Kopf, schütteln sich, wedeln mit der Hand hin und her und erzeugen rhythmische Geräusche. Bisweilen fügen sich diese Kinder selbst Schmerzen zu und scheinen dabei sogar Lust zu empfinden. Sie trommeln sich beispielsweise mit den Fäusten gegen den Kopf, beißen sich in die Hand oder schlagen sich gegen die Stirn, bis es blutet.

Da Delacato auch bei blinden und tauben Kindern ohne psychischen Defekt ähnliche, sich wiederholende Verhaltensweisen fand, leitete er daraus die Vermutung ab, daß Autismus in Wahrheit die Spiegelung von Wahrnehmungsstörungen sei, die den fünf Sinnen zugeordnet werden können: Wenn sie mit Tönen und Geräuschen zu tun haben, weise das auf eine Störung im Bereich des Hörens hin; wenn Schmerzempfindungen stimuliert werden, deute dieses Verhalten auf den Tastsinn.

Delacato unterscheidet bei den autistischen Kindern drei Gruppen. Die einen haben ein überempfindliches Wahrnehmungssystem -- sie sprechen auf schon die geringsten Reize an. Folge: Diese Kinder fühlen, schmecken, riechen, hören und sehen zu gut. Sie schreien beispielsweise schon auf, wenn ihnen jemand nur nahe kommt, und zeigen sich schon bei minimalen Geruchswahrnehmungen aufs äußerste erregt.

Beim geringsten Geräusch halten sie sich die Ohren zu; Kitzeln oder Berührungen sind schmerzhaft für sie, ihre Augen sind empfindlich gegen Licht, und ihr Geschmackssinn ist so ausgeprägt, daß sie kaum etwas essen können: Ihre Sinnesbahnen erscheinen Delacato »wie riesige achtspurige Autobahnen, auf denen die Information schneller und in stärkerer Intensität, als zu erwarten ist, das Gehirn erreicht«.

Bei einer anderen Gruppe sind die Sinnesbahnen unterentwickelt und befördern nicht genug Informationen oder Reize zum Gehirn. Zu dieser Gruppe gehören, nach Ansicht des Forschers, die Handbeißer, die ihren Tastsinn stimulieren wollen, und jene Kinder, die sich und ihre Umgebung mit Exkrementen beschmieren, um einen vertrauten Geruch wahrnehmen zu können. Sie essen unmäßig, weil ihr Geschmackssinn unterentwickelt ist.

Bei einer dritten schließlich wirkt sich die Deformation des Sinnessystems komplex aus: Eigenempfindungen Lind Wahrnehmungen an der Umwelt -- Delacato spricht von »weißen Geräuschen« -- überschneiden sich.

Entsprechend dieser Einteilung entwickelte Delacato seine Therapie: Die sinnliche Wahrnehmung der Kinder wird, entsprechend dem jeweiligen Krankheitsbild, stimuliert und so auf echte Sinneserlebnisse vorbereitet. »In dem Maß, wie die Kinder zu echten Sinneserlebnissen kamen«, berichtet Delacato, »stellte sich die Normalisierung ein, und die repetiven Verhaltensanomalien verschwanden.« Jedenfalls waren Delacatos Patienten so weit lebenstauglich geworden, daß sie nicht mehr in Heimen untergebracht werden mußten.

In der Bundesrepublik leben nach Schätzung der Mediziner etwa 6000 autistische Kinder. Delacato hielt im vergangenen Juni vor Studenten der Pädagogischen Hochschule Rheinland in Köln ein Autismus-Seminar. Dazu waren auch Deutschlands Autismus-Experten eingeladen. Kein einziger kam.

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