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REKORDFAHRTEN Adel verpflichtet

aus DER SPIEGEL 40/1960

Brüllend wie ein Flugzeug beim Start setzte sich das scharlachrote Spezial-Automobil in Bewegung, gewann wie eine Rakete Geschwindigkeit und war Sekunden später auf der weißschimmernden Meßstrecke nur noch als dunkler-Punkt zu erkennen.

Wenige Augenblicke danach schrillte auf dem Zeitnehmerstand das Telephon: »Hier Streckenposten zwei. Er ist verunglückt.«

Nur der zweite Streckenposten hatte das Desaster beobachtet: Bei einer Geschwindigkeit von über 480 Kilometern je Stunde löste sich das linke Vorderrad von der Achse, der rasende Wagen torkelte vom Kurs ab, stieg steil in die Luft und zerschellte in einer Serie von Saltos. Zwei Stunden später starb der Fahrer des Wagens, der 36jährige Amerikaner Athol Graham.

Graham war der bisher letzte einer großen Anzahl Rennfahrer, die das tollkühne Unterfangen, den Geschwindigkelts-Weltrekord zu brechen, mit dem Leben bezahlten. Auf ähnliche Weise zwar, aber ohne tödlichen Ausgang, endete am Freitag vorletzter Woche ein weiterer Start auf der Rekordstrecke: Von einer Bö aus der Fahrbahn gedrückt, überschlug sich das Spezial-Rekord-Auto »Bluebird« ("Blauer Vogel") des Engländers Donald Campbell bei 480 km/st. Campbell wurde nach dem mörderischen Salto mit geringfügigen Schnittverletzungen und Prellungen aus dem demolierten Wagen geborgen.

Seit der französische Graf de Chasseloup-Laubat 1898 mit einem Elektro -Automobil den ersten offiziellen Rekord auf 63,157 km/st festgesetzt hatte, war die Höchstmarke von waghalsigen Automobilisten immer höher geschraubt worden. Den Rekord hält der Engländer John Cobb: Mit einem durch Eisstücke gekühlten PS-Ungetüm fuhr er 1947 zehnmal so schnell wie das Elektro-Auto von 1898, nämlich 634,385 km/st.

Erst im Rekord-Sportjahr 1960 trauten sich einige Rennfanatiker zu, den von Cobb erzielten Speed-Rekord anzugreifen. Außer Graham und Campbell erschienen mehrere amerikanische Konkurrenten auf der völlig- ebenen, hindernisfreien Salzsee-Rennstrecke bei Bonneville im amerikanischen Staat Utah, der einzigen Autopiste, die derart hohe Geschwindigkeiten zuläßt.

So raste der kalifornische Physiker Dr. Nathan Ostich mit einem geschoßähnlichen Vehikel über die Rennbahn, das durch die Schubkraft einer Bomber-Turbine vorwärtsgepeitscht wurde. Ostichs Fahrzeug besteht im Grunde nur aus einer langen Röhre, in der sich Triebwerk und Fahrer befinden. Mit seiner wie ein Rammsporn aussehenden Spitze gleicht das Automobil eher einer Rakete auf Rädern als einem Kraftwagen. Der Versuch schlug fehl, weil der Wissenschaftler während der Fahrt Störungen am Triebwerk bemerkte und das beschädigte Projektil durch Ziehen der Fallschirmbremse vorzeitig stoppte.

Freilich, selbst wenn Ostich die Düsenfahrt mit Rekordgeschwindigkeit durchgehalten hätte, wäre er nicht Rekord-Inhaber geworden: Der internationale Automobilsport-Verband (FIA) schreibt nämlich vor, daß die zum Antrieb eines Fahrzeugs verwendete Energie, die aus einem Aggregat nach freier Wahl bezogen werden darf, auf mindestens zwei Räder übertragen werden muß, wenn eine Rekordfahrt anerkannt werden soll. Das war bei Ostichs Raketen-Auto nicht der Fall.

Ein anderer Rekordjäger, der Rennfahrer Mickey Thompson, benutzte deshalb, wie der verunglückte Graham, einen Wagen mit orthodoxem Kolbentriebwerk. Während Graham jedoch einen Flugzeugmotor eingebaut hatte, koppelte Thompson vier hochgezüchtete Pontiac-Automobil-Motoren, deren Gesamt-Hubraum dem Hubvolumen von 21 Volkswagen entspricht.

Kurz vor den ersten Probestarts von Campbell vermochte Thompson mit dieser geballten Motorenkraft den bestehenden Geschwindigkeits-Rekord um 19 km/st zu überbieten. Allein, eine weitere Bedingung in den Rekordvorschriften verhinderte, daß die Fahrt anerkannt wurde: Thompson war vorerst nicht in der Lage, die Meßdistanz in beiden Richtungen in Rekordzeit zu durchrasen, weil das Getriebe seines Wagens defekt geworden war.

Nach dem Todessturz Grahams und den technischen Havarien von Ostich und Thompson errechnete sich Campbell gute Chancen, mit seinem blaugestrichenen, neun Meter langen und vier Tonnen schweren Vehikel, das er mit einer Flugzeug-Strahlturbine ausgerüstet hatte, den Rekord zu brechen. Er glaubte sich in zwei von ihm selbst aufgestellten Thesen bestätigt:

- Rekordversuche müssen unter Einbeziehung wissenschaftlicher Forschungsresultate jahrelang mit äußerster Gründlichkeit vorbereitet werden.

- Sie sind folglich entsprechend kostspielig, so daß nur noch ein von finanzstarken Firmen unterstützter Rennfahrer den Rekord übertrumpfen kann.

In der Tat ging Donald Campbell als Repräsentant einer von fast 70 britischen Firmen der Flugzeug-, Kraftfahrt- und Mineralöl-Branche gebildeten Interessengemeinschaft erst nach fünfjähriger Vorbereitungszeit auf Rekordjagd. Die Firmen, darunter BP (Mineralöl), Dunlop (Reifen), Lucas (Zündkerzen) und Girling (Bremsen), wollten den Weltrekord Campbells als »Projekt des britischen Prestiges« (so Campbell) in ihrer Werbung ausschlachten. Sie versorgten daher Campbell so reichlich mit Geld, daß ihm von vornherein ein Rekord gewiß war: Für rund zwölf Millionen Mark baute er das bislang teuerste Auto der Welt.

Angesichts so gearteter finanzierter Rückenstärkung wirken die Anstrengungen der amerikanischen Campbell-Vorgänger wie die Taten bastelnder Amateure. Zum Vergleich: Der gerade verunglückte Rekord-Bewerber Graham kaufte für insgesamt nur 11 000 Mark Flugzeug- und Automobil-Teile und bosselte - ohne Strömungsversuche im Windkanal - sein Renngefährt nach dem Do-it-yourself-Prinzip zusammen.

Campbell installierte dagegen in seinem Super-Auto die raffiniertesten Extras, zum Beispiel, einen Projektor, der die Angaben der Wichtigsten Instrumente auf die Frontverglasung warf. Mit Hilfe dieser Vorrichtung konnte Campbell die Instrumente während der Fahrt kontrollieren, ohne den Blick von der Strecke zu wenden. Außerdem wurden elektronische Warngeräte eingebaut, die alle wichtigen Funktionen der technischen Eingeweide überwachten.

Indes, das Super-Auto, das die Überlegenheit der britischen Motoren-Industrie künden sollte, endete ruhmlos: Während ein Krankenwagen den lädierten Campbell in das nächste - 120 Kilometer entfernte - Hospital beförderte, wurde der zum Schrotthaufen deformierte Blaue Vogel abgeschleppt.

Der Rennfahrer gab freilich sein Rekordstreben nicht auf. Wenige Stunden nach dem Unglück - die Ärzte hatten gerade sein zerfetztes linkes Ohr genäht - erklärte er: »Ich werde es wieder versuchen. Der Zwischenfall kann mich nicht entmutigen!«

Campbell fühlt sich von einer abseitigen Familientradition gedrängt, zum Ansehen Englands bei Rekordversuchen das Leben zu riskieren: Er folgt dem Vorbild seines Vaters, des 1931 geadelten Sir Malcolm Campbell: Mit Automobilen und Rennbooten, die stets Bluebird hießen, war der alte Campbell zu Lande und zu Wasser hinter den Geschwindigkelts-Weltrekorden hergejagt. Sir Malcolm, der wegen seiner zahlreichen amourösen Abenteuer berühmt war (Lady Dorothy Campbell, seine zweite Frau: ».. die Personalfrage war ein schweres Problem; kein Mädchen blieb länger als ein paar Wochen"), heiratete dreimal, stellte mehr als ein Dutzend Weltrekorde auf und wurde bei Auto-, Boot- und Flugzeug-Unfällen schlimm zugerichtet. Er starb jedoch - am Silvesterabend 1948 - mit 63 Jahren wider Erwarten eines

natürlichen Todes.

Bemüht, der Lebensführung seines Vaters nachzueifern, hat sich Sohn Donald ebenfalls schon dreimal verehelicht, mehrfach im Düsen-Rennboot Bluebird den Speed-Rekord zu Wasser bis auf 416 km/st verbessert und dabei zwei Schädelbrüche sowie zahlreiche andere Unfallverletzungen erlitten.

Aus der Familientradition ergab sich zwangsläufig, daß Donald Campbell auch den Automobil-Weltrekord ansteuerte. Wie bei all seinen gefährlichen Unternehmungen suchte er dabei die Unterstützung seines toten Vaters, den er in nächtlichen spiritistischen Sitzungen um Fahrtips zu bitten pflegt.

Weder der alte Rekordbrecher im Jenseits noch sein rekordjagender Sohn konnten allerdings die skeptischen Fragen beantworten, die der australische Rennfahrer Jack Brabham dem Donald Campbell vor dessen Abreise nach Utah stellte: »Was mir nicht gefällt, sind die vielen Unwägbarkeiten. Du sitzt ganz vorn in dem neun Meter langen Auto. Wie willst du zum Beispiel rechtzeitig wahrnehmen, wenn das Heck anfängt zu schwänzeln, und wie willst du das Fahrzeug unter Kontrolle halten,

wenn es zu schleudern beginnt?« Gestand Campbell: »Ich weiß nicht. Da muß ich mich ganz auf meinen Instinkt verlassen.«

Durch das offensichtliche Versagen seiner Instinkte während der Fahrt in der vorletzten Woche sieht sich Campbell um Jahre zurückgeworfen. Der Rennfahrer wollte nämlich nach vollbrachter Rekord-Tat, für die ihm neben lukrativen Geldprämien einträgliche Aufsichtsratsposten zugesagt worden waren, aus dem gefährlichen Geschäft des Rekordbrechens aussteigen.

Nach seiner Meinung liegen die mit einem Automobil möglichen Höchstgeschwindigkeiten ohnehin nur noch rund 170 km/st über der bereits 1947 von seinem Landsmann Cobb erzielten Rekordmarke von 634 km/st, da es keinen Reifen gibt, der wesentlich höhere Geschwindigkeiten zuläßt. Schon beim jetzt verunglückten Bluebird durfte die Gummi-Auflage der von Dunlop entwickelten profillosen Reifen wegen der auf sie einwirkenden gewaltigen Zentrifugalkraft nur noch einen halben Millimeter dick sein, so daß bei diesem entscheidenden Problem das Ende der Entwicklungsmöglichkeiten und damit der Rekordfahrten sichtbar scheint.

Ganz anderer Ansicht als Campbell ist der im Stuttgarter Porsche-Werk tätige Konstrukteur Leopold Schmid. Er entwarf einen baureifen Rekordwagen mit Turbinen-Antrieb, der nur halb soviel wiegt wie Campbells Bluebird und noch strömungsgünstiger konstruiert ist.

Entscheidender technischer Gag des Projekts sind jedoch die Räder: Schmid will für künftige Rekordfahrten zum erstenmal reifenlose Räder verwenden. Die üblichen Gummireifen sollen durch neuartige, aus profiliertem Leichtmetall bestehende sogenannte Laufringe ersetzt werden.

Der Porsche-Konstrukteur, der sich den raffinierten Reifen-Ersatz patentieren ließ, hat ein ehrgeiziges Ziel: Das Stuttgarter Projekt, das nach Angaben des Erfinders Schmid nur etwa 500 000 Mark erfordert, soll einem Automobil ermöglichen, Geschwindigkeiten von mehr als 1000 km/st zu erreichen und die Schallmauer zu durchbrechen.

Rekordjäger Campbell jun.: In nächtlicher Seance....

... Fahrtips vom toten Vater: Rekordfahrer Campbell sen.

Campbells Rekordwagen »Bluebird": Versagten die Instinkte ...

... beim Aufprall einer Seitenbö?: »Bluebird«-Wrack.

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