Ai Weiwei im Interview "Ich mache mir nur Sorgen um die deutsche Kultur"

Ai Weiwei mit "Safety Jackets Zipped The Other Way"
Foto: JOHN MACDOUGALL/ AFPSpiegel: Ai Weiwei, Sie haben sich mit Ihrer Kunst schon häufig mit der Flüchtlingskrise und der Flucht über das Mittelmeer auseinandergesetzt, etwa Installationen aus Rettungswesten erschaffen. Jetzt präsentieren Sie in den Läden einer Baumarktkette ein für jedermann käufliches Ai-Weiwei-Kunstwerk: Rettungswesten zum selbst Zusammenbauen. Welche Idee steckt hinter diesem Werk?
Ai Weiwei: Meine naive Idee ist, dass die Menschen mein Kunstwerk als Readymade begreifen, als ein existierendes Produkt, über das es sich nachzudenken lohnt. Ich möchte, dass die Leute es in ihr tägliches Leben integrieren.
Ai Weiwei wurde 1957 in Peking geboren und wuchs wegen der Verbannung seines Vaters, eines in China sehr bekannten Dichters, weitgehend in der ländlichen Mandschurei und in Xinjiang auf. Nach einem Studium an der die Pekinger Filmakademie zog er 1981 in die USA und kehrte erst acht Jahre später nach China zurück. Als Konzeptkünstler, Bildhauer und Kurator nahm er unter anderem an der documenta 12 in Kassel im Jahr 2007 teil, wegen seines Engagements als Menschenrechtler war er nach regierungskritischen Äußerungen in China von April bis Juni 2011 inhaftiert und hatte bis 2015 Reiseverbot. Bis 2019 lebte er mit Hauptwohnsitz in Berlin.
Spiegel: Fürchten Sie nicht, dass Sie für das Baumarkt-Kunstwerk, für das man die Bauanleitung und ein Echtheitszertifikat in Netz herunterladen kann, Kritik ernten oder verspottet werden?
Ai Weiwei: Natürlich gibt es auch einen lustigen Aspekt an der Sache. Und vielleicht werden manche mich einen Verräter an der Kunst nennen. Aber für mich ist nur wichtig, dass ich meinen eigenen Ideen treu bleibe.
Spiegel: Sie haben zuletzt mit der Verlegung Ihres Hauptwohnsitzes von Berlin nach London für Aufregung gesorgt. Wo sind Sie im Augenblick zu Hause?
Ai Weiwei: Ich habe nach wie vor ein Studio und eine Wohnung in Berlin, mein Sohn geht in Cambridge zur Schule. Ich reise in viele Städte der Welt, um Ausstellungen zu machen oder auf Podien zu diskutieren. Die meiste Zeit lebe ich in Hotels. Dort lerne ich jeweils neu, wie man das Licht einschaltet oder die Dusche anmacht. Im Grunde bin ich nirgends daheim. Ich kann nicht nach China reisen. Weil meine Mutter sagt: Es ist gefährlich für dich. Komm lieber nicht, bleib außerhalb des Landes.
Spiegel: Was erzählen Ihre Freunde und Verwandten über die augenblickliche Situation in China angesichts der Bedrohung durch das Coronavirus?
Ai Weiwei: Im Grunde ist die Lage in China so, als sei das Land durch einen Atomschlag getroffen worden. Die Menschen sind gezwungen, in ihren Wohnungen zu bleiben. Sie können sich nicht mal gemeinsam in Bunker flüchten, wie das früher in Kriegen vielleicht möglich war. Die Straßen und Märkte sind menschenleer, die Fabriken haben ihre Arbeit eingestellt, die Restaurants sind geschlossen. Selbst Nachbarn fürchten sich vor jeder Begegnung. Jeder starrt auf seinen We-Chat und wird dort mit falschen Informationen gefüttert und mit irreführenden Instruktionen - zum Beispiel darüber, was man essen soll. Die Zahl der Toten steigt ständig, aber sie ist in Wahrheit viel höher als offiziell angegeben. Manche Menschen sterben auf der Straße und viele hinter versiegelten Türen. Haben Sie von den versiegelten Türen gehört? Haben Sie die Bilder gesehen?
Spiegel: Nein.
Ai Weiwei: (zeigt auf einem Smartphone ein Amateurvideo) Diese Aufnahmen sind von heute Morgen. Sehen Sie, die Frau versucht, aus dem Fenster ihrer Hochhauswohnung in ein höheres Stockwerk zu klettern. Man hat die Türe ihrer Wohnung von außen versperrt. Sie versucht sich hochzuhangeln und stürzt aus großer Höhe auf den Erdboden. Es ist ein hohes Gebäude. Es ist schrecklich.
Spiegel: Falls das Video authentisch ist, ist das schlimm. Viele westliche Beobachter und Politikfachleute spekulieren, dass die Regierung in Peking durch den Zorn der Menschen im Land über das schlechte Management der Coronavirus-Krise zu politischen Veränderungen gezwungen sein könnte. Was, denken Sie, wird passieren?
Ai Weiwei: Es wird überhaupt nichts passieren. Die Mächtigen in China haben in Situationen wie diesen seit Hunderten von Jahren genauso gehandelt. Es hat ihre Macht nicht beschädigt. Denken Sie an das Massaker auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989. Man hat Panzer gegen friedliche Studenten eingesetzt und Tausende von Studenten verschwinden lassen. An den politischen Verhältnissen hat sich nichts geändert.
Spiegel: Die politischen Analysten aus dem Westen liegen Ihrer Meinung nach weitgehend falsch?
Ai Weiwei: Sie liegen immer falsch. Weil sie ausschließlich nach westlichen Maßstäben urteilen. Auch 1989 hieß es, die chinesischen Machthaber würden sich nicht halten können. Später sind Politiker und Geschäftsleute aus dem Westen nach China gereist, haben große Deals abgeschlossen und behauptet, wenn erst die Wirtschaft und die Märkte im Land erstarken, dann würde die Demokratie sich von selbst einstellen. Das ist nicht passiert. Die Kommunisten in China sind reicher und mächtiger geworden, aber die Chinesen insgesamt haben sich nicht verändert. Sie sind immer noch ignorant, egal ob sie arm oder reich sind, sie interessieren sich nicht dafür, was die Menschen in anderen Ländern sagen.
Spiegel: Sie haben über die Missstände in China, die Flüchtlingskrise in Europa und die aktuellen Proteste in Hongkong viele Filme und Videos gedreht. Rund 50 Ihrer Filmarbeiten werden vom 19. Februar an im Berliner Babylon-Kino - bewusst parallel zur Berlinale - präsentiert. Planen Sie, auch über die aktuellen Entwicklungen in China angesichts der Coronavirus-Bedrohung einen Film zu drehen?
Ai Weiwei: Wir sind bereits dabei. Wir sammeln Material und haben zahlreiche Projekte parallel laufen. Neben Filmen über Hongkong auch einen über die 43 verschwundenen Studenten in Mexiko und über die Zustände in Bangladesh und Myanmar.
Spiegel: Bei der Berlinale wird keiner Ihrer Film gezeigt. Im vergangenen Jahr wurde "Rest" über die globale Flüchtlingskrise abgelehnt, in diesem Jahr auch "Vivos" über das Regiment des Verbrechens in Mexiko.
Ai Weiwei: Die Berlinalemacher zeigen jedes Jahr 400 Filme. Ich kann nicht verstehen, warum sie meine nicht haben wollten. Wahrscheinlich sehen sie in mir eine Art Coronavirus.
Spiegel: Sie haben sich in Interviews zum Beispiel im "Guardian" über die rassistische, obrigkeitshörige Grundeinstellung der Deutschen beklagt, die sich Ihrer Meinung nach seit der Nazizeit nicht wirklich verändert hat. Auch über die Unhöflichkeit der Berliner Taxifahrer zeigten Sie sich empört.
Ai Weiwei: Die Taxifahrer sind mir egal. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, in dem es kein Toilettenpapier und kein Fahrrad gab. Und da soll ich mich über Taxifahrer beschweren? Aber es gab einen sehr ernsthaften Konflikt, wegen dem ich Deutschland verlassen musste. Ich hatte keine Wahl.
Spiegel: Geht es um Ärger mit den Steuerbehörden?
Ai Weiwei: Ich kann Ihnen darauf keine klare Antwort geben. Darum kümmert sich mein Anwalt. Ich fühle mich unfair behandelt. In einer demokratischen Gesellschaft sollte man miteinander sprechen können, es sollte Gesetze geben, auf die man sich berufen kann. Aber ich bin in Deutschland Menschen begegnet, die mir gesagt haben: "Ich bin das Gesetz." Ich habe das mehrmals zu hören bekommen. Ich werde Ihnen keine Namen nennen. Aber mir kommt der Satz "Ich bin das Gesetz" so vor, als hätte ich es mit der Mafia zu tun. Ich habe keinen Grund, in Deutschland irgendein Gesetz zu verletzen.
Spiegel: Und über die Details des Konflikts können Sie wegen des laufenden Rechtsstreits nicht Genaueres sagen?
Ai Weiwei: Zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht. Aber ich nehme es nicht persönlich. Ich mache mir nur Sorgen um die deutsche Kultur. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich Heinrich Heines "Deutschland, ein Wintermärchen" gelesen. Es war wie eine Erleuchtung für mich, weil mich dieses Buch gelehrt hat, dass kein Staat der Welt dem menschlichen Geist etwas anhaben kann. Später habe ich Karl Marx gelesen, Sigmund Freud, Albert Einstein. Sie alle schrieben in deutscher Sprache. Zufällig stammen sie alle aus ursprünglich jüdischen Familien. Verrückt, oder?
Spiegel: Was wollen Sie damit sagen?
Ai Weiwei: Sie wurden unterdrückt. Sie wurden herumgeschubst, weil man sie als Menschen ohne Heimat ansah. Sie wurden von niemandem gemocht. (Er klopft auf den Tisch:) Ich bin ein chinesischer Jude. Ich glaube nicht, dass irgendjemand mich mag.
Spiegel: Warum?
Ai Weiwei: Weil ich zu viele Fragen stelle. Weil ich keine Tabus kenne. Weil ich daran glaube, dass der menschliche Geist in diesem kalten, dunklen Universum nur zum Leuchten gebracht werden kann, wenn man vor keiner Frage zurückschreckt.