Am Nachmittag des 5. Dezember 1961
wurde Sonja Drenckberg, die gerade sechs Jahre alt geworden war, mit einem Taxi in die chirurgische Privatklinik des Dr. med. Werner Petrick in Kiel eingeliefert. Die mit dem Vermerk »Dringend« versehene Einweisung des Hausarztes lautete:
»z. B. Appendicitis beg. otitis med. li. u. re. + Grippe - Tracheitis"*
Dr. Petrick gewann den Eindruck, es handle sich tatsächlich um eine akute Entzündung, und entfernte unverzüglich operativ den Blinddarm.
Etwa 30 Minuten nach der Operation lief das noch immer unter Einwirkung der Narkose stehende Kind blau an. Wenig später fiel es in Krämpfe. Am Abend des 6. Dezember 1961 wurde des Kind, dessen Bewußtlosigkeit andauerte, in die Kinderklinik der Universität verlegt.
Nachdem das Kind zeitweilig auch neurochirurgisch beobachtet worden war, erlangte es schließlich wieder eine - freilich sehr reduzierte - Art von Bewußtsein. Es konnte zum Beispiel mit dem Löffel essen, war jedoch anscheinend erblindet und häufig unruhig.
Am 23. Januar 1963 wurde das Kind mit Einverständnis der Ärzte nach Hause entlassen. Dort starb es in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar 1963. Die Obduktion brachte weder Klarheit darüber, inwiefern Narkose und Operation am 5. Dezember 1961 Ursache der Erkrankung des Kindes gewesen sind, noch konnte festgestellt werden, weshalb das Kind in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar - nach einer allerdings höchst relativen Besserung seines Zustands - so plötzlich starb.
Es ging in der vergangenen Woche in Kiel um den Tod des Kindes Sonja Drenckberg. Doch genaugenommen wurde über das Mißtrauen des kleinen Mannes verhandelt. Wie der kleine Mann zu definieren sei, ist umstritten. Auch wird bezweifelt, daß es ihn überhaupt gibt.
In Kiel aber saß er als Nebenkläger im Saal 112 des Amtsgerichts, und einmal rief er, zornig und verzweifelt: »Ich habe ja schließlich nur die Volksschule besucht.«
Diesen kleinen Mann also gibt es mit Sicherheit: den Mann, den die Akademiker beunruhigen. Sie wissen so vieles besser. Und Worte wie Appendicitis können sie auch richtig aussprechen. Sie sind nicht gemeint, wenn es in der Werbung tröstlich heißt: »Sagen Sie ganz einfach Max - well.«
Der kleine Mann, um den es hier geht, hat den Verdacht, daß die studierten Herren die Zechpreller der Weltgeschichte sind. Selten kann man ihrer Gewandtheit etwas nachweisen. Und fast immer fallen sie auf die Füße.
Man versetze sich in die Situation des Nebenklägers gegen Dr. Petrick, des Vaters Helmut Drenckberg. Am 5. Dezember 1961 lag er krank zu Bett, und Sonja kam zu ihm, um sich zu verabschieden. Sie mußte nicht etwa an sein Bett getragen werden.
Was er danach wiedersah, was er mehr als ein Jahr lang ansehen mußte: ein bewußtloser, schließlich lallender Krüppel. Ein Zerrbild des Kindes, das sich an jenem 5. Dezember auch noch zärtlich von seinem Wellensittich auf dem Balkon verabschiedet hatte.
Für den Heizungsmonteur Drenckberg ermittelte der Staatsanwalt von Hertlein, ein Akademiker, gegen den Dr. Petrick, einen anderen Akademiker. Und die Gutachten, die den Staatsanwalt von Hertlein dazu bestimmten, das Ermittlungsverfahren einzustellen, die stammten natürlich auch wieder von Akademikern, von Fachkollegen des Dr. Petrick sogar, von Professoren und Doktoren der Medizin' Wie hätte es anders sein können. Doch der Volksmund weiß, daß Krähen zu anderen Krähen nett sind.
Immerhin, Herr Drenckberg fand einen akademischen Kampfgefährten, den Rechtsanwalt und Notar Dr. Kurt Platz, Kiel. Herr Platz ist so schmächtig von Gestalt, wie Dr. Petrick ein athletischer Hüne ist. Herr Platz ist 63 Jahre alt, ein Gerät hängt ihm vor der Brust, doch hilft's ihm kaum: Herr Platz hört sehr, sehr schlecht. In Kiel sprach ein Gutachter von »Arzneimitteln«. Herr Platz schoß hoch: »Sie sprechen hier immer von Waschmitteln ...«
Am 18. Januar 1962 saß Herr Platz in der Rechtsberatungsstelle für Minderbemittelte und Arbeitslose in Kiel. Die Sprechzeit war gleich zu Ende, da trat Herr Drenckberg ein. Herr Platz schilderte es dramatisch: »Mit weit aufgerissenen Augen, ängstlich ... Er erzählte mir von den vielen, angeblichen Widersprüchen, die Dr. Petrick gemacht hat ...«
Herr Platz nahm sich des Falles unentgeltlich an, und sicher gibt es heute viele, die meinen, kein anderer als Herr Platz habe auf dem Gewissen, daß nicht schon längst Ruhe ist um den Tod dieses Kindes. Hat Herr Platz, der ein wenig ein Sonderling sein mag, vielleicht schon deshalb, weil er so schlecht hört, einen Ehrgeiz entwickelt, der nicht sein darf?
Einmal sagte er in Kiel von dem Kind Sonja: »Das habe ich liebgewonnen.« Beherrschten Vertretern der Advokatur schmeckt so ein Satz wie eine ungeschälte Zitrone. Doch, mag es auch am engeren Verhältnis des Journalisten zu den Wurzeln des Kitsches liegen und an seinen gelegentlichen Erlebnissen, die ihn an die Möglichkeit von herzlichen Gefühlen hartnäckig glauben lassen: Es hat etwas den Herrn Platz getroffen und zunehmend erfaßt. Etwas, das ein bißchen besser ist als Ehrgeiz.
Herr Platz erstattete namens der Eltern Drenckberg Anzeige, forderte Schadensersatz und protestierte bis zum Generalstaatsanwalt hinauf gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Er protestierte vergeblich, und wer Herrn Drenckbergs Mißtrauen nicht begreift, der möge auch bedenken, was Herr Platz einmal hören mußte: »Ich sollte mich schämen, als Akademiker einen Akademiker anzuzeigen.«
Dem Oberlandesgericht in Schleswig ist zu danken, daß die Ermittlungen dann doch wiederaufgenommen wurden. Nach seiner Ansicht waren zwei Punkte nicht hinreichend geklärt: War Dr. Petrick wirklich im Besitz der Zustimmung der Eltern Drenckberg, als er operierte? Und: Ist die Narkose an Sonja Drenckberg gemäß der Anleitung vorgenommen worden, die dem verwendeten Narkosemittel beiliegt?
Herr von Hertlein vertrat die Anklage wie ein Mann, der die Notwendigkeit anzuklagen nie gesehen hat. Ein Lächeln lag fast ständig auf seinem Gesieht, schließlich hatte er's schon immer gewußt. Dem Dr. Petrick stand nicht nur ein Verteidiger zur Seite, und die Anklage soll ja auch Entlastendes suchen.
Dennoch wäre es wohl besser gewesen, wenn den Eltern Drenckberg dies erspart geblieben wäre; dieser unverhohlene Triumph der zur Klage gezwungenen Anklage. Der Vorsitzende des erweiterten Schöffengerichts, Amtsgerichtsrat Spoerel, ließ viel Raum zu freier Rede. Gewiß auch aus Rücksicht auf die Eltern. Doch mußte er diese Rücksicht denn auch der Verteidigung, der Anklage im Siegeswagen und dem Angeklagten einräumen.
Die verstanden die Freiheit zu nutzen. Herr Platz hingegen hört wirklich sehr, sehr schlecht. Am Ende fragte Herr Drenckberg die Gutachter und hatte Schwierigkeiten mit Fremdworten. Und da stand denn Herr Dr. Petrick auf und erklärte fortissimo, nach der höchst berechtigten Erkundigung, ob Herr Platz ihn auch verstehe, dem Herrn Platz: »Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß ich keinen Krämerladen besitze ...«
Dr. Petrick hat keinen Kunstfehler begangen, weder bei der Operation, noch bei der Narkose zuvor. Was er veranlaßte. nachdem das Kind nicht mehr erwachte, bietet keinen Anlaß zur Kritik.
Ein hochberühmter Senior der Chirurgie, Professor Heinrich Bürkle de la Camp, 71, zuletzt in Nordrhein-Westfalen tätig und eigens geholt, um einen wenigstens der Region nach unmißverständlich unabhängigen Gutachter zu haben, bestätigte es in Kiel. Es war nicht vorauszusehen, daß Narkose und Operation derart auf das Kind Sonja wirken würden. Ein einmaliger Operationszwischenfall ist zu beklagen.
Nur einen Fehler beging Dr. Petrick: Er ließ sich die Zustimmung der Eltern zur Operation nicht schriftlich geben. Die Eltern bestreiten nach wie vor, eine solche Zustimmung gegeben zu haben. Doch das Gericht sprach Dr. Petrick auch in diesem Punkt frei. Das hat zu gelten.
War das jahrelange Ringen um die Hauptverhandlung also sinnlos? Nein, es mußte verhandelt werden, es hätte schon längst verhandelt werden sollen. Denn es war ja auch die Differenz zwischen der Anwendung des Narkosemittels durch Dr. Petrick und der Anleitung zu klären, die dem Mittel beiliegt. Auch hier wurde Dr. Petrick voll entlastet.
Professor Gerhard Hecht, 66, als Gutachter; 40 Jahre lang war er für Bayer -Leverkusen tätig, den Hersteller des Evipan-Natriums, das am 5. Dezember 1961 angewandt wurde. In der »Waschzettel« genannten Anleitung heißt es: »Vor der Evipan-Natrium-Narkose ist die s. c. Injektion von 0,25-0,5 mg Atropin erforderlich ...«
Ein Medikament, so lange im Handel wie Evipan-Natrium, seit den 30er Jahren also, erfuhr man von Herrn Hecht, bedarf kaum noch einer Anleitung. Die Ärzte »haben die Lektüre eigentlich gar nicht nötig«. Der Hersteller faßt die Anleitung »nicht als Vorschrift auf«. Nicht mehr als »ein Niederschlag von Erfahrungen« ist das Anleitung genannte Papier.
Auf dem Waschzettel steht: »In diesem Zusammenhang sind auch die entzündlichen Erkrankungen im Bereich des Mundbodens und des vorderen Halsdreiecks zu, erwähnen. Die Ursache der bei solchen Erkrankungen zu Narkosebeginn auftretenden ... schweren
Zwischen- und Todesfälle konnte ... weitgehend aufgeklärt werden.«
Das Kind Sonja litt an einer beginnenden Mittelohrentzündung. Das Oberlandesgericht Schleswig meinte, es habe al§o sehr wohl eine Kontraindikation bestanden, ein Grund, auf keinen Fall Evipan-Natrium zu verwenden.
Weit gefehlt. »Dieser Passus, er stammt aus dem Jahre 1933, aus einer Zeit, in der einige Meldungen uns bekanntgeworden sind ...« Wegen der »Übererregbarkeit gewisser Reflexzonen in der Mundbodenregion« ist, so Herr Hecht, »dieser Absatz in den Waschzettel hineingeraten«. Hineingeraten!
Herr Hecht ist der Ansicht, »daß man den Abschnitt aus dem Waschzettel eigentlich herauslassen könnte«. Und die Notwendigkeit, vor Evipan -Natrium vorbereitend Atropin zu spritzen, ist »bis 1957 überhaupt nicht erwähnt worden«. Erst 1958/59 wiesen Veröffentlichungen darauf hin, »wie wichtig doch die Atropingabe sein kann«. So wurde der Hinweis »1959 aufgenommen«. 1962 »sind wir sogar soweit gegangen, 'ist erforderlich' zu sagen«.
Nur heißt erforderlich eben nicht erforderlich. Herr Drenckberg: »Aber ich meine, wenn das da drin steht -?« Professor Hecht: »Wir sind Arzneimittelhersteller, wir haben dem Arzt keine Vorschriften zu machen.« So also ist das.
Herr Drenckberg kann es nicht fassen. »Wenn ich eine neue Maschine einbaue, dann liegt eine Vorschrift bei, wie ich sie zu installieren habe. Halte ich mich nicht daran, und es passiert etwas, dann bin ich dran.«
Herr Hecht: »Wenn Sie eine neue Maschine einbauen -. Aber wenn Sie eine Maschine einbauen, die Sie schon seit 30 Jahren einbauen!«
Gutachter Dr. von Karger versucht eine andere, vielleicht dem Volksschüler gemäßere Antwort: »Der Mensch ist eben keine Maschine.«
Nun, es mußte einem erst einmal gesagt werden, was für ein Bethmann -Hollweg-Papier diese »Anleitung« ist. Der Senior Bürkle de la Camp, mit der Offenheit, zu der ihn sein Lebenswerk berechtigt, sagte es in Kiel brutal: »Sie sind wissenschaftlich begründet (die Anweisungen). Aber wenn wir sie ganz genau befolgten, dann würden wir stehenbleiben. Dann gäbe es keinen Fortschritt.«
So gingen auch recht verschiedene Antworten auf eine Umfrage ein, mit der von Kiel aus Stellungnahmen zur Narkose an dem Kind Sonja erbeten wurden. Ein Facharzt: Dilaudid, das in Kiel 1961 anstelle von Atropin gespritzt wurde - »nicht ausreichend«. Ein anderer: »Keine Bedenken.« Ein dritter: »Dilaudid für Anwendung bei Kindern« - nach einem Prospekt aus dem Jahr 1960 - »bei Kindern nicht geeignet, während ein neuerer Prospekt die altersgerechte Dosierung bei Kindern angibt«. Trotzdem: »Keine Bedenken.« Ein vierter: »... ist kaum zu leugnen, daß die in diesem Falle gegebene Dosierung ... zu hoch gewesen ist.« Ein fünfter: die Dosierung sei »etwas hoch, aber nicht gefährlich hoch«.
Professor Bürkle de la Camp in Kiel: »Wir sind ja noch lange nicht am Ende aller Dinge.« Doch wie soll, trotzdem und deswegen, Herr Drenckberg mit den Akademikern zu einem Ende kommen?
* »zur Beobachtung Blinddarmentzündung/ beginnende Mittelohrentzündung links und rechts + Grippe - Luftröhrenentzündung.«
Arzt Petrick als Angeklagter: Erforderlich heißt nicht erforderlich