KUNST Aktion Vogelflug
In 20 Jahren Künstlerlaufbahn ist der Bayer Nikolaus Lang gerade zwölf Kilometer weitergekommen, allerdings auf Umwegen durch die halbe Welt.
Von England- und Japan-Aufenthalten zurück, wohnt er seit 1972 in der 900-Einwohner-Gemeinde Bayersoien, Kreis Garmisch-Partenkirchen -- nahe bei seinem Geburtsort Oberammergau, wo er einst in die Herrgottsschnitzer Schule ging und bei den Festspielen den »Pilatusdiener« gab.
Da streift er nun, zu Fuß oder auf einem rostigen Damenfahrrad, so ausdauernd durch die postkartenschöne Landschaft, daß seine Naturverbundenheit einen Waldhüter beschämen könnte. Er hält Zwiesprache mit dem Wirt vom »Weißen Roß« oder dem Dorf-Original »Kehrerwastl«, und wenn es eine zeitgemäße Heimat-Kunst geben sollte, dann hat Nikolaus Lang. 34, sie erfunden.
Daß aber diese Spezialität nicht etwa provinziell, sondern eine überzeugende Variante von weltweiten Tendenzen ist, hat Lang bereits im internationalen Vergleich, so bei der Pariser Biennale und dem Kölner »Projekt »74«, darlegen können. Einen Überblick über seine Arbeiten von 1969 an vermittelt er seit letztem Wochenende mit einer Ausstellung bei der Kestner-Gesellschaft in Hannover*. So vollständig war seine Kunst noch nie beisammen.
Oft scheint sie freilich mehr eine Wissenschaft zu sein. Denn was der bodenständige Künstler dem Land und seinen Leuten abgewinnt, das stellt er nicht auf bunten Bildern dar, sondern in Schaukästen. die kaum aus dem Rahmen eines Naturkunde- oder Geschichtsmuseums fallen würden. Sie enthalten, neben Photos und Protokollen, reale Fundgegenstände, die Lang in einer selbstgenähten Ledertasche von seinen Streifzügen heimgetragen und akribisch in Katalog-Listen verzeichnet hat: von fossilen Pflanzenresten und verrotteten Gerätschaften über Federn und Tierknochen bis hin
* Bis 30. November. Katalog 96 Seiten; 12 Mark.
zu Raubvogel-Gewöllen mit Mausezähnen und »benagten Kirschkernen«.
Aber Lang sortiert nicht nur seinen Kleinkram mit dem Fleiß eines Hobby-Wissenschaftlers, immer wieder erhöht er auch das Fundobjekt zum Fetisch: Neben dem Gewölle-Kasten steht, auf Haselstecken aufgerichtet, ein abgezogener Bussard-Balg, der so den Flug des Vogels simuliert. Mit einem deutlichen Hang zur Objekt-Magie pflegt der Künstler tote Dinge ins Leben zu beschwören, Ausstellung als Ritus zu zelebrieren.
Und das nicht erst in Galerie-Räumen. Bevor noch Lang sein ausgeweidetes Federvieh öffentlich zeigte, hatte er es in einsamer Natur-Aktion am Rande eines Weihers »ausgestellt«. Die dabei erzielten Positionsvarianten hielt er in einer Photo-Serie fest, die dem Kasten »Bussardrevier -- -- Flugbilder« nun genauso einverleibt ist wie ein komplett abgehobenes Waldboden-Stück mit Resten eines zweiten Bussards -- zoologisches Memento mori.
Der Gegensatz von Verwesung und Mumifizierung ist für Lang ein Leitmotiv. Er hält gleichsam die Zeit an, läßt Erinnerung sich materialisieren, wenn er den leeren Vogelbalg vorweist, ein von Ameisen reingefressenes Hasenskelett, versteinerte Palmwedel-Abdrücke oder auch den Hausrat Verstorbener.
Planmäßig erforscht, mit Erinnerungen von Dorfbewohnern angereichert (und in eine Kornkiste gepackt) hat Lang die Hinterlassenschaft von vier unverheirateten Geschwistern namens Götte, die auf den »Grundhauerwiesen« bei Bayersoien ein karges, abgesondertes Hütten-Leben führten. Seit 1966 der Schuster Ludwig Götte als letzter starb, verfielen die Behausungen; Werkzeug, Geschirr und spärliche Schriftdokumente lagen verstreut umher. bis Lang sie auflas und eine der Hütten soweit instand setzte, daß sie ihm Raum für Privatausstellungen und Schutz vor Unwetter bieten kann.
Die Leute, in deren Spuren er auf diese Weite tritt und die er als Vorbilder urmenschenhafter Überlebenskunst bewundert, könnten dem Künstler sogar verwandt gewesen sein. Die Mutter der Göttes hatte den Mädchennamen Lang getragen.
Ein Stuck privater Vorgeschichte, stets freilich assoziativ mit Vorgängen aus Natur und Erdhistorie verknüpft, trägt Lang ohnehin in seine Arbeiten hinein. So notiert er eigene Erinnerungen an Ludwig Götte, den er vor bald 20 Jahren bei Ausflügen nach Bayersoien noch gesehen hat, und betreibt buchstäblich eine Archäologie seiner Kindheit. Er hat frühe Spiel-Plätze wieder aufgesucht und etwa die Überbleibsel eines einst vergrabenen Rehbock-Leichnams für seine Kunst geborgen.
So kehrt er unmittelbar an seinen Heimatort Oberammergau zurück, zu dem der Sproß einer verzweigten Festspieler- und Bürgermeister-Sippe eine tiefsitzende Haßliebe hegt und in dem er sich 1970 mit Polemik gegen das antisemitische Sakral-Theater unbeliebt gemacht hat.
Die Oberammergauer Schnitzschule hatte ihm 1956 den gewünschten Einstieg in die Kunst, auf die Dauer aber ebensowenig Anregung geboten wie die danach besuchte Münchner Akademie.
1966 mit einem Stipendium nach London entsandt, suchte er mühsam einen eigenen Weg über veränderbare Konstruktiv-Plastiken und makabre »Fesselungen": präparierte Mäuse und Frösche, in Koitus-Stellung verschnürt. Als er 1970 im Park »Wimbledon Common« ein verlassenes Liebesnest mit Zigarettenschachtel, Hygiene-Artikeln sowie Stinkmorcheln ("Phallus impudicus") entdeckte und dokumentierte. hatte, so der Titel einer Trend-Ausstellung, an der Lang 1974 teilnahm, die »Spurensicherung« begonnen.
Ein Japan-Aufenthalt 1971/72 brachte Lang dann fernöstliche Meditationen und Zeremonien nahe. An Inselufern arrangierte er Strandgut zu »japanischen Landschaften«, an Vulkanhängen ließ er Rauchzeichen aufsteigen. Und beispielsweise mit einer Zeitschriften-Dokumentation über jenen japanischen Soldaten, der 28 Jahre lang insgeheim auf Guam durchgehalten hatte und dessen Unterstand der deutsche Künstler in einem Tokioter Kaufhaus ausgestellt sah, spielt Japan noch in die jüngsten Lang-Arbeiten hinein. Wie der Nippon-Krieger sich mit selbstgewebtem Faserstoff bekleidete, so schritt Lang in einem »Grasmantel« eigener Herstellung durch den Wald von Bayersoien.
Er selbst kann oft »den Hintergrund einer solchen Handlung nicht erklären«. Seine nun auf heimatliches Terrain verlegten Spiele und die Fundstücke aus dieser Gegend liefern statt eindeutiger Aussagen ein Geflecht von Motiven und Querbezügen, ein System von Erinnerung.
Was Lang aber keinesfalls möchte, weiß er genau: »Nostalgie« befördern oder ein »Umweltfritze« sein.