Zur Ausgabe
Artikel 39 / 104

Alice im Raubtierhaus

aus DER SPIEGEL 15/1991

Verkauft (versprochen? angedroht?) wird uns eine neue Steigerung von Gewalt und Grausamkeit im Kino: Jonathan Demmes Thriller »Das Schweigen der Lämmer« handelt von zwei Serien-Mördern, gegen die Haarmann (mit dem Hackebeilchen) und Jack the Ripper sich wie Gemütsmenschen ausnehmen.

Der eine, Gott sei Dank am Filmanfang hinter Schloß und Riegel und besser bewacht als die Goldschätze in Fort Knox, Dr. Hannibal Lecter, pflegte seine Opfer roh zu verspeisen. Wenn dieser hochgebildete Kannibale nichts anderes bekam, fiel er sie an und fraß ihnen wenigstens die Zunge als fleischfressender Rohkostler ("Guten Appetit") aus dem Mund. Natürlich ist ein derart raffiniertes Untier auch in geistigen Dingen so etwas wie ein »europäisch«-dekadenter Gourmet.

Der andere, von dem sich herausstellt, daß er ein Transvestit besonderer Art ist, bastelt sich seine fehlende weibliche Psyche, indem er Mädchen fängt, brutal umbringt und aus ihrer Haut schält - um sich so ein »Kleid« echter Weiblichkeit zu nähen. Er ist primitiver, handfester gebaut. Ihn treibt gerade das fehlende Raffinement, die unsichere Seelenlage zum Verbrechen. Im Unterschied zum selbstbewußten Dr. Lecter ist die unkultivierte Bestie reiner Wilder Westen: als pure Perversion.

Um den einen zu jagen (der Buffalo Bill genannt wird), muß man den anderen ("Hannibal the Cannibal") hinter Gittern studieren, »entschlüsseln«. Dazu dient ein junges FBI-Mädchen: Mit Speck fängt man Mäuse, mit jungem Mädchenfleisch geile Massenmörder.

Die Täter sind die Weiterentwicklung der kranken Bestie im Mann, wie sie die amerikanische Zivilisation (nicht nur) als Angstvorstellung hervorgebracht _(* Mit Jodie Foster und Anthony Hopkins. ) hat. In Hitchcocks »Psycho« war sie das bis zum Blutrausch gezähmte Muttersöhnchen, in David Lynchs »Blue Velvet« war sie das schnaubende Mannsbild, das aus dem gepflegten Rasen der Suburbs kroch wie das Ungeziefer nach der Berieselung.

Jetzt, in Jonathan Demmes »Schweigen der Lämmer«, ist der totale sexuelle Krieg erklärt: Das kranke Sex-Monster wird vom FBI umstellt und generalstabsmäßig eingekreist, es wird von der Frau ans Tageslicht des Bewußtseins gelockt, bis es sich verrät, und »Verrat« ist wirklich eine der Chiffren des Films: Das eine männliche Untier gibt der Frau die »Losung«, die Duftmarke, das sexuelle Geheimnis des anderen preis - um, als Lohn, die nackte Psyche der Frau zu sehen zu bekommen.

Schocker, wenn sie denn fast so etwas wie eine zustimmende Hysterie bei ihrem Publikum in Gang setzen, müssen die Nervenenden kollektiver Angstvorstellungen und Verdrängungen mit ihren Wahnideen kurzschließen.

In »Psycho« war der Mord unter der Dusche ein Hohn auf die schmuddeligen Phantasien einer hygienischen, scheinbar unter dem Matriarchat gezähmten Gesellschaft - ein blutiger Hohn.

In »Eine verhängnisvolle Affäre«, eher eine Billigausgabe kollektiver Ängste, wurde der bequeme Seitensprung im Büro mit den Foltern wahrer Leidenschaft bestraft - das schlechte Gewissen im Aids-Zeitalter.

Und jetzt? Ist »Das Schweigen der Lämmer« nicht nur ein perfide gut gebauter Thriller mit glänzendem Timing, das über alle Seichtigkeit und Unwahrscheinlichkeit der Story hinwegfegt? Suspense at its best, ein bißchen krampfig in der Logik, aber um so zwingender durch den Würgegriff der Spannung?

Nein, da ist vor allem Jodie Foster vor, deren Filmbiographie ohnehin fest in die amerikanische Kollektivseele eingraviert ist. Das zeigte sich mit dem Lolita-Bewußtsein in Filmen wie »Bugsy Malone« (1976) und »Das Mädchen am Ende der Straße« (1977) und kulminierte bereits in der Darstellung der kindlichen Prostituierten in Martin Scorseses »Taxi Driver« (1976), wo sie die Psycho-Ordnung zwischen schutzwürdigen engelhaften Frauen und selbstlosen Beschützern gründlich durcheinanderwirbelte: Der Schutz war die eigentliche Bedrohung, die Beschützte die eigentliche Provokation - daß ein in sie verliebter Verrückter ein »Taxi Driver«-Attentat auf Präsident Reagan veranstaltete, war sicher nur ein idiotischer Zufall. Aber Zufälle können den Wert von Symbolen gewinnen.

Zwölf Jahre später, 1988, spielte Jodie Foster in »Angeklagt« eine Frau, die um ihr Recht kämpft, aufreizend sein zu dürfen, ohne damit ihre Vergewaltigung zu rechtfertigen. Und jetzt? Im »Schweigen der Lämmer« ist sie, scheinbar immer noch mehr Mädchen als Frau, eine Idealbesetzung, weil die in abstruse Gewalt mündenden sexuellen Männerphantasien sich am unschuldigsten Opfer entzünden.

Der Film beginnt im Trainingslager des FBI, zeigt Jodie Foster joggend, fightend, trainierend, in herber Landschaft - weibliches Mitglied eines coolen Männerbundes, der, gemanagt wie ein x-beliebiges Großunternehmen, ohne Emotionen den Kampf gegen das Verbrechen zum Business gemacht hat: ein Konzern, dessen Produkt soziale Sicherheit sein soll.

Der einzige emotionale Beziehung zur Männerwelt hat sie zu ihrem Chef, der als Ersatzvater fungiert, sie umsorgt, sie aber auch zur Prüfung und Bewährung ins Feindesland des Verbrechens (und das heißt: der Triebe) schickt.

Um so wirksamer der Kontrast: Sie soll in einem der bestbewachten Sicherheitstrakte einer US-Verwahrungsanstalt einen der gefährlichsten Triebtäter, eben Lecter, aushorchen und beobachten - er soll sie auf die Spur des Frauenhäuters Buffalo Bill führen.

Der Keller-Trakt mit den gefährlichsten Triebverbrechern, zu dem man hinabsteigt wie in die Tiefen der Psyche, gleicht einem schwerstgesicherten Raubtierhaus: Wie an Gittern rüttelt die vertierte Sexualität, wirft mit sprachlichem und realem Unflat.

Es ist dem Film (bewußt oder unbewußt?) ein grausig-absurdes Bild für die Entstellungen der Sexualität in einer modernen Gesellschaft gelungen: Sie ist nur im Zoo hinter Gittern zu halten und zu bremsen; sie ist nur noch als Perversion wahr, schrecklich wahr. Sie hat mit der hygienischen Promiskuität, der familiären Verharmlosung und hierarchischen Zähmung des Sex »draußen« nichts mehr gemein als das aggressive Verbrechen, das sie an ihr begehen will.

Deshalb ist sie hochexplosiv. Und sie ist, so absurd das klingen mag, gerade in ihrem widerlichsten Vertreter, dem Dr. Lecter, wie Anthony Hopkins ihn mit zynischer Bravour spielt, ein intellektuelles Abenteuer.

Der Film schlägt hier eine perfide Volte: Nur, indem die Unschuld (also die FBI-Agentin) sich dem Verbrecher geistig preisgibt, wird sie seiner Komplizenschaft teilhaftig, und Verbrechen sind nur durch Komplizenschaft aufklärbar.

Der Film demonstriert das auch, indem er gegen den kannibalischen Lustmörder den schmuddelig-ehrgeizigen Anstaltsdirektor (Anthony Heald) setzt: einen harmlos spießigen Busengrabscher, der dem Zuschauer bald abscheulicher vorkommt als der eingesperrte, nach Menschenfleisch lechzende Killer.

Der nämlich wird zum Psychiater und Beichtvater der Agentin: Ihr soll im Innersten klar gemacht werden, wie unrein die Motivationen sind, die sie zu ihrem Reinigungskampf beflügeln.

Die Dialoge zwischen dem schrecklichen Doktor und seiner kindlich-tapferen Inquisitorin sind der brillanteste Teil des Films: Sie decken auf, was sie scheinbar verbergen; sie sind von lauernder Offenheit, die durch die Trennscheibe nur verstärkt wird; sie sind verletzend intim. Man könnte sagen: Sie sind die eigentlichen sexuellen Akte des Films. Daneben beherrscht Demme die Klaviatur des Horror-Kinos virtuos, wenn er beispielsweise einen Wettlauf mit der Zeit veranstaltet: Die Tochter einer Senatorin befindet sich in den Klauen des Hautaufschlitzers; ihr Überleben ist nur eine Frage von Stunden, der Countdown läuft.

Auch hier steigt der Film (unmerklich, aber um so wirksamer) in die böse Archaik der Märchen hinab: Der Schlüssel des Verbrechens liegt im Kinderzimmer, der Wüstling hält seine letzte Beute in einem Brunnenschacht gefangen, wo sie, eine ungezogene dickliche Märchenprinzessin, um ihr Leben wimmert; die unerschrockene Unschuld Jodie steigt in diesen Abgrund - es ist der Strudel der wüsten Alpträume und Angstphantasien unserer Welt.

Und so mag »Das Schweigen der Lämmer« als wirksame Spekulation Hollywoods ausgetüftelt und gedreht worden sein: Der Film zeigt, und darin liegt seine Wirkung und Wahrheit, die Eskalation sexueller Gewalt als Eskalation einer hygienischen, vernünftig geordneten und effektiv verwalteten Welt.

* Mit Jodie Foster und Anthony Hopkins.

Hellmuth Karasek
Zur Ausgabe
Artikel 39 / 104
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren