MUSIK Allein unter Männern
Die Lehrerin wusste sich nicht mehr zu helfen. Das lebhafte Mädchen, das da in der ersten Klasse einer Pariser Grundschule vor ihr saß, war intelligent, selbstbewusst und ungemein ungezogen. Die Kleine lief umher, redete ohne Unterlass und störte massiv den Unterricht. Kurz entschlossen band die enervierte Pädagogin die hyperaktive Emmanuelle am Stuhl fest und verschloss ihr - sicher ist sicher - noch mit Klebeband den Mund, den sie partout nicht halten wollte.
Heute, knapp 30 Jahre später, wenn Emmanuelle Haïm diese Geschichte etwas verlegen erzählt, lässt sie ihre Gesprächspartner immerhin ausreden, aber Vorschriften mag sie immer noch nicht.
Die Französin, die ihr Alter beharrlich verschweigt und von Vertrauten auf Mitte dreißig taxiert wird, ist inzwischen der neue Star der klassischen Musik. Ihre Spezialität: Barock. Ihr Renommee: gewaltig.
In nur wenigen Jahren hat es Haïm zu einer beachtlichen Reihe von Plattenaufnahmen, einem eigenen Orchester und Engagements in aller Welt gebracht.
Die Cembalistin und Dirigentin gilt längst - so die »Sunday Times« - als »eine der heißesten Nummern« der Barockmusik. Als einzige Frau am Dirigentenpult. Und die »Süddeutsche Zeitung« schwärmt, es gelinge ihr, »Magie und Erotik zwischen sich und den Sängern herzustellen«. Dabei hat Madame das Dirigieren nie gelernt.
Auf dem Weg zur sicheren Weltkarriere hat sie nun eine weitere, wohl die entscheidende Stufe genommen: Beim angesehenen englischen Opern-Festival in Glyndebourne, traditionell ein Sprungbrett für Hochbegabte, dirigiert Haïm seit vergangenem Samstag Georg Friedrich Händels Heldenoper »Rodelinda«.
Den experimentierfreudigen Talentsuchern aus Glyndebourne hat die Französin auch ihre allererste große Chance zu verdanken.
Denn nach der eigentlichen Saison im Stammhaus verdient sich das Festival in jedem Herbst auf einer sechswöchigen Tournee durch die englische Provinz noch ein Zubrot. Für die Gastspiele werden - unter dem zugkräftigen Label Glyndebourne - viel versprechende Nachwuchskräfte engagiert. Für die Tingeltour von 2001 war Haïm als Dirigentin für ebenjene »Rodelinda« gebucht, die sie in diesem Jahr nun endlich im geheiligten Mutterhaus, dem englischen Salzburg, präsentieren darf.
Haïm war von ihrer Mission, barockes Feuer in die kulturelle Diaspora von Norwich, Woking oder Milton Keynes zu tragen, so erfüllt, dass sie wildfremden Menschen Freikarten aufdrängte - »im Zug, auf der Straße, im Restaurant«. Besonders stolz ist sie darauf, dass sie »sogar eine Kellnerin und eine Putzfrau« davon überzeugen konnte, auch tatsächlich in die Vorstellung zu kommen.
Für ihre stationäre »Rodelinda« hat sie das auf alte Musik spezialisierte Orchestra of the Age of Enlightenment mit Originalinstrumenten zur Verfügung - auf der Tour musste sie sich noch mit einem zusammengewürfelten Klangkörper begnügen, dem die Bemühungen um Originalklang nicht geläufig war. Kaum jemand wusste, wie man den Geigenbogen bei Barockmusik führt. Die charismatische Haïm brachte es ihnen bei: fordernd, charmant und effektiv.
Wo immer sie dirigiert, ob im Plattenstudio, im Konzertsaal oder auf der Bühne, überall loben die Kritiker ihre Fähigkeit, alte Musik so packend zu interpretieren, als wäre sie von heute. Claudio Monteverdis »Orfeo« von 1607, das erste Opernmeisterwerk der Geschichte, klingt auf ihrer Platteneinspielung mit den Gesangsstars Ian Bostridge und Natalie Dessay knackfrisch und dramatisch. Zupackende Tempi, die aber nicht gehetzt wirken, effektvolle Details, die die große Linie nicht verleugnen, und vor allem eine intensive Arbeit mit den Sängern - das alles sind Haïms Markenzeichen.
Sie hat das Dirigieren nie gelernt? Macht nichts - entspannt räkelt sie sich auf dem grünen Gras von Glyndebourne und erklärt: »Bei der alten Musik sitze ich sowieso am Cembalo und leite die Aufführung von dort aus. Da reichen ein paar Gesten.« Und was für welche. Haïm befeuert ihre Musiker mit ganzem Körpereinsatz. Sie wippt und schwingt, jede Emotion der Musik spiegelt sich in ihrem Gesicht. Klang entsteht im Körper, das muss sie zeigen. Jederzeit.
Wenn es die Partitur zulässt, springt sie von ihrem Cembalo-Stuhl auf und dirigiert mit weit ausholenden Armbewegungen. »Ich bin gern der Boss.« Einen Taktstock braucht sie nicht.
Angefangen hat die geborene Führungskraft als klassische Pianistin. Sie spielte Schumann, Schubert, Bach und sehnte sich doch nach anderem. Sie wechselte zur Orgel, später zum Cembalo, und mit den Instrumenten änderte sich auch das Repertoire: Es wurde immer älter.
Kaum hatte sie sich als eine der gefragtesten Cembalistinnen etabliert, bekam sie Angebote, für Pultgrößen wie Claudio Abbado oder Simon Rattle zu arbeiten. Sie bereitete als Assistentin die Proben von Barockwerken für die etablierten Maestri vor und saß bei den Aufführungen am Cembalo.
Freunde brachten Haïm dann bald dazu, ein eigenes Ensemble zu gründen, Le Concert d'Astrée. Ein Jahr lang übten die Musiker ohne Gage. Nachdem die Dirigentin mit ihrem Ensemble die ersten Erfolge aufweisen konnte, angelte sie sich auch schon einen Sponsor.
Sie brauchte nur einen Nachmittag, so berichtet sie, um einem Gremium des Kommunikationsgiganten France Télécom klar zu machen, dass der Staatskonzern von nun an ihr Orchester unterstützen müsse.
Ihr Argument war so simpel wie überzeugend: »Ich habe denen gesagt, dass ohne ihre Hilfe das alte Repertoire sterben wird.« Und sie hat die Manager mit der
patriotischen Karte gekitzelt. Sie werde, versprach sie ihnen, endlich derart zündende Aufführungen der Werke von Jean-Philippe Rameau und Jean-Baptiste Lully zu Stande bringen, dass Kritiker außerhalb der Grande Nation endlich nicht mehr böswillig verbreiten könnten, bei den beiden Franzosen handle es sich um die größten Langweiler der barocken Musik.
Aber irgendwie scheint es Haïm in der kleinen Welt der Originalklang-Gurus von William Christie (ihrem Lehrer), John Eliot Gardiner oder Marc Minkowski mit ihren Spezial-Ensembles zu eng zu werden. Neuerdings nimmt sie immer häufiger Engagements bei großen Orchestern an, um ihnen den rechten Sound fürs Alte beizubringen.
Am 17. Dezember wird sie in Frankfurt am Main als Deutschland-Debüt das Radio-Sinfonie-Orchester dirigieren, auf dem Programm steht Händels selten aufgeführtes Oratorium »La Resurrezione di Nostro Signor Gesù Cristo«. Und 2006 wird sie in Paris mit dem Regie-Weltreisenden Robert Wilson Johann Sebastian Bachs »Johannes-Passion« szenisch präsentieren.
Derweil versetzt das Glyndebourner Programmheft Originalklang-Jünger in hellen Aufruhr. Madame Haïm, so ist da zum Befremden ihrer Anhänger zu lesen, werde ihr USA-Debüt mit einem Dirigat von Dvoráks 9. Symphonie krönen, die der Tscheche in Amerika schrieb und die seitdem als »Symphony from the New World« firmiert. Läuft die Dirigentin, kaum dass sie sich einen Namen als Barockspezialistin gemacht hat, nun mit fliegenden Fahnen zur saftigen Allerwelts-Symphonik mit Schmalz und Schmackes über? Verkauft sie sich voreilig an den Kommerz?
Keine Bange. Die Glyndebourner Programmheftmacher haben da etwas verwechselt. Haïm wird am 13. November in Miami lediglich einen Klangkörper anleiten, der den missverständlichen Namen New World Symphony trägt. Programmiert sind - da ist die Neue ganz die Alte - ihre Lieblinge: Händel und der Ex-Langweiler Rameau. JOACHIM KRONSBEIN