Alltagsrassismus Lässig fahrlässig

U-Bahnschild in Berlin: "Die Absicht ist in der Auseinandersetzung mit Rassismus nicht maßgebend."
Foto: OMER MESSINGER/EPA-EFE/ShutterstockStellen Sie sich vor, Ihnen tritt in der Bahn oder im Supermarkt jemand auf den Fuß. Sie schrecken auf, doch statt sich zu entschuldigen, beginnt der Andere eine Abhandlung über Füße und ihre Funktion als Agenten unserer Freiheit, und versichert, er habe Ihnen ja nur Platz machen wollen. Ihre Empörung sei also grundlos, Sie sollten sich deshalb nicht so anstellen.
Was würden Sie sagen? Dass Sie seine Absicht rührt? Oder dass er Ihrem schmerzenden Fuß davon erzählen soll?
In Berlin weiß man, das Sätze, die mit "Niemand hat die Absicht..." beginnen, mit Vorsicht zu genießen sind. Deshalb hört man lieber zweimal hin, wenn dieser Tage ein Historiker wie Götz Aly die Absichten einst herrschender Obrigkeiten zitiert - und sei es nur im Streit um den Namen einer Straße. Seine historische Analyse und daraus entwickelte Streitschrift in der "Berliner Zeitung" richtet sich gegen die Umbenennung der M****-Straße in Berlin (ebenso wie die der entsprechenden Haltestelle, die die Berliner Verkehrsbetriebe schon beschlossen haben, deren neuer Namensträger, der Komponist Michael Glinka, jedoch ein antisemitisches Heldenepos schuf, weshalb die Wahl wiederum heftig kritisiert wird). Aly argumentiert, dass die Straße benannt worden sei, um Fremde willkommen zu heißen. GegnerInnen der Umbenennung springen ihm bei: Man müsse doch die Geschichte kennen, bevor man die Gegenwart ändert.
Diese Rückschau verfehlt jedoch ihr sehr gegenwärtiges Thema. Und kann als Warnsignal für ein dringend notwendiges Update des stockenden Diskurses dienen. Denn die Absicht, zumal eine längst vergangene, ist in der Auseinandersetzung mit Rassismus nicht maßgebend.

Friedemann Karig, geboren 1982, arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Moderator. Sein Sachbuch über offene Beziehungen "Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie" erschien 2017 bei Blumenbar, sein erster Roman "Dschungel" bei Ullstein. Karig lebt in Berlin.
Zwischenfrage: Haben Sie eine Haftpflichtversicherung? Hoffentlich, denn wer etwas kaputt macht, zahlt den Schaden - egal, was er oder sie sich dabei dachte. Jedem Kind erklären wir, dass Unwissenheit vor Verantwortung nicht schützt. Dass sich auch kümmern sollte, wer jemanden unabsichtlich verletzt hat.
Von banalen Alltagskonflikten bis in die Verästelungen unseres Strafrechts ist die böse Absicht nur ein, nie der Faktor bei der Schuldfindung. Eine Richterin interessiert zwar die Niedertracht eines Täters, jedoch bleibt mangelnder "Vorsatz" höchstens strafmildernd. Diese simple Regel schützt uns, indem sie uns alle zur Vorsicht erzieht. Sie wird kaum jemals grundsätzlich verhandelt, weil ihr Gegenteil so undenkbar wäre: Dass man sich mit "War keine Absicht!" aus aller Verantwortung stehlen könnte.
In vielen Debatten rund um Rassismus hört man jedoch: "Aber es war doch gar nicht so gemeint". Ohne böse Intention, meinen manche, könne kaum etwas Rassismus sein - jedenfalls keinen rassistischen Schaden anrichten. Hier haben wir eingeübt: Erst eine böse Absicht macht eine Tat - und das kann auch ein gesprochenes Wort sein - zur Tat. Das meiste andere ist ein bedauerlicher Unfall. Im Alltag sagen wir: "War nicht böse gemeint", im US-Amerikanischen auch "No offense" - also: kein Angriff. Und stellen uns selbst einen Freispruch aus. Doch allein diese intentionale Brille ist bei rassistischen Begriffen, die enorme historische und soziale Hypotheken mit sich tragen, der falsche Schliff, will man die Welt scharf sehen: Rassismus ist ein System, kein Ereignis.
So mag im Jahr 1706, als die M****-Straße ihren Namen bekam, ein begrüßender Gestus gewirkt haben. Aber wen genau hieß man willkommen? Aus Afrika verschleppte Hausdiener und Leibeigene, die entrechtet, zwangsgetauft, vorgeführt und ausgebeutet wurden, auch von den angeblich so toleranten Herrschaften, die in Berlin die Straßen tauften: 1683 hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg die Kolonialfestung "Groß-Friedrichsburg" (heute: Princes Town/Pokesu) im heutigen Ghana an der westafrikanischen Küste errichtet. Dadurch konnte die Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie für gut 15 Jahre am Versklavungshandel der europäischen Mächte teilnehmen.
Mehr als 20.000 westafrikanische Kinder, Frauen und Männer wurden dabei in die amerikanische Plantagensklaverei verschleppt und verkauft. Erst Ende des 18. Jahrhunderts bekamen die M** hierzulande überhaupt eingeschränkte Rechte. So lernt man es auf der Webseite der Initiative für die Umbenennung der M*-Straße . Das alles aber verschweigt etwa Götz Aly in seinem Beitrag. Wer ist also geschichtsvergessen?
Zurechtgefeilt von Missbrauch und Unterdrückung ist der Begriff des M*** bis heute spitz und scharf; er verletzt die eine Seite wie ein Messer, mit dem weiter fröhlich durch die Gegend wirft, wer nur den stumpfen Griff fühlen will. Diese gefühlte Mehrheit könnte eine Minderheit sein: Das M-Wort wird heute, das zeigen nichtrepräsentative Umfragen der Studierenden des ansässigen Institutes für Europäische Ethnologie, zumindest von den meisten Passanten der betreffenden Straße als abwertend verstanden.
Das beginnt damit, dass es eine Fremdbezeichnung ist, sich bei jeder Benutzung problematische Machtgefälle reproduzieren. Auch deshalb ist das Wort zuletzt an vielen Stellen - man denke an den Sarotti-M** – freiwillig entsorgt worden, ebenso wie das N-Wort, um das das gleiche diskursive Rückzugsgefecht gekämpft wird. Einen solchen Begriff wie Götz Aly lokal einzufrieren und ein paar Zeitalter später auftauen zu wollen, ist ahistorisch – und abgehoben von der Gegenwart. Was juckt schwarze Menschen im heutigen Berlin die sprachmanifestierte Gunst einer lange vergangenen Herrscherkaste? Sie wollen ihre Zukunft weniger gewaltvoll gestaltet wissen, nicht die Vergangenheit erklärt bekommen.
Weiterhin ganz lässig fahrlässig Begriffe zu benutzen, die andere rassistisch abwerten, nur um sich immer wieder mit Arglosigkeit zu verteidigen – das mag dem Selbstbildnis als Nicht-Rassist helfen. Es bringt aber sonst keinen weiter. Wer dann noch wütend wird und Mitmenschen "ignorant" oder "einfältig" nennt, statt ihnen ihren Schmerz zu glauben und ein paar Schilder zu ändern (um nichts anderes geht es), muss sich nicht wundern, wenn diese Mitmenschen ihm doch noch Böses unterstellen: nämlich die absichtliche Taubheit gegenüber ihrer Klage, eine Trotzreaktion wie ein Kind, das sich die Ohren zu hält und laut lalalalalasiebzehnhunundertsechslalalala ruft.
Die ewige Wiederholung der Absichtsargumentation geht geradewegs ins Narzisstische, wo sie die eigene Bewertung als Maß aller Dinge durchsetzen will – und bricht damit den Dialog ab. Man sollte sie also als das benennen, was sie in diesem Streit ist: moralische Folklore. Sie darf in einem Museum, im Lexikon und in unserer Erinnerung nicht fehlen. Schreiben wir sie auf Gedenktafeln, neben die Opferzahlen und Täternamen und Foltermethoden und Langzeitfolgen der Unterdrückung. Die Absicht darf erwähnt werden. Aber entscheiden darf sie nichts.