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Ossip K. Flechtheim über Bertrand de Jouvenel: "Die Kunst der Vorausschau" AM HORIZONT: 2000

Professor Ossip Kurt Flechtheim, 58, lehrt Politologie an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören unter anderem: »Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945«, »Eine Welt oder keine?«. Flechtheim ist der Erfinder des Begriffs »Futurologie«. -- Professor Bertrand de Jouvenel, 63, arbeitet -- unter anderem als »Futurologe« -- in Paris. Auf deutsch liegt bereits sein Buch »über Souveränität« vor.
aus DER SPIEGEL 31/1967

Anfang dieses Jahres konnten einem an größeren Zeitungskiosken gleich mehrere Zeitschriften auffallen (darunter der SPIEGEL), die Artikel über die Zukunft brachten. Für diese thematische Koinzidenz »gibt es sicherlich viele Gründe, unter anderem wohl die Tatsache, daß wir jetzt in das letzte Drittel des Jahrhunderts eingetreten sind und das Jahr 2000 sich schon deutlicher am Horizont abzuzeichnen beginnt. Das Interesse an der Zukunft wächst -- in den USA wie in der Sowjet-Union, in Deutschland wie in England oder Frankreich.

Von dort kommt nun ein Buch, das in mancher Hinsicht als »kleines Brevier« der Zukunftsforschung anzusehen ist. Der Verfasser selber ist zu bescheiden, diesen Anspruch geltend zu machen -- es ist Bertrand de Jouvenel, auch in Deutschland bereits durch Übersetzungen bekannt

Der Sohn des Botschafters Henry de Jouvenel und Stiefsohn der Colette ist -obwohl ohne reguläre akademische Ausbildung -- 1966 zum Professor an der Pariser Juristischen Fakultät ernannt worden. Schon vorher war er Präsident der »Société d'études et de documentation économiques, industrielles et soziales« in Paris. Sein Interesse für die Zukunft erwachte unter dem Einfluß von H. G. Wells. Mit Unterstützung der Ford-Stiftung konnte er eine Serie von Zukunftsstudien begründen, die er »Futuribles« (ein Kunstwort aus »futur« = Zukunft und »possible« möglich) nannte. Heute sind sie Bestandteil der Monatsschrift »Analyse et Prévision«.

Die Zukunftsvision eines Ernst Bloch ist voll teutonischen Tiefsinns -- Jouvenels »Kunst der Vorausschau« bleibt in der besten Tradition der französischen Aufklärung: logisch, voll von Ideen und Fakten. Bei aller Originalität des Gegenstandes ist das Buch stark empirisch und positivistisch angelegt. Die ganze Tiefe der Krise unserer Epoche bleibt so freilich ebenso im Hintergrund wie die revolutionierende Bedeutung der Kategorien Zukunft, Möglichkeit, Theorie und Praxis.

Dem Autor geht es primär um die Fragen der Vorausschau und Prognose, sekundär um die der Zielsetzungen, Normen und Werte, während die Probleme der Planung und Programmierung bewußt ausgeklammert bleiben. Jouvenel behandelt Natur und Vokabular »der Zukunft, die persönliche Zukunft des einzelnen, die historischen und wissenschaftlichen Voraussagen im allgemeinen, die quantitativen Prognosen im besonderen sowie die verschiedenen Methoden, die Zukunft zu analysieren.

Er ist sich dabei der Schwierigkeit, exakt vorauszusagen, nur allzusehr bewußt. Im sozio-kulturellen Bereich ist -- anders als in der Natur -- die Zahl der Unsicherheitsfaktoren so groß, daß man nur zu annähernden Vermutungen kommen kann. Während die Vorausschau, zumindest für die nächste Zukunft, in der Wirtschaft noch einigermaßen exakt gegeben werden kann, sind in der Politik, wo der einzelne Machthaber und damit der Zufall eine so viel größere Rolle spielen, Prognosen viel zweifelhafter.

Aber das ist nur ein Grund mehr, gerade hier die Kunst der Vorausschau zu fördern. Jouvenels Untersuchung mündet so in die Forderung nach einem »Prävisionellen Forum«, das aus Vertretern der verschiedenen Human- und Sozialwissenschaften gebildet werden und ständig in Funktion sein soll: »Das prävisionelle Forum muß als eine wirkliche Institution konzipiert werden, wo sehr verschiedene Fachleute spezielle Vorausschauen zusammentragen, die zu allgemeineren Vorausschauen kombiniert werden.«

Jouvenel zeigt an vielen Beispielen, daß auch in der Vergangenheit gelegentlich erfolgreich prognostiziert worden ist. So sind technologischer Fortschritt und Produktivitätssteigerung schon 1724 von Jonathan Swift richtig erfaßt worden. Der »Gulliver«-Autor erzählt, daß es im Königreich Balnibarb »keine größere Stadt ... mehr gibt, die nicht eine solche Akademie besitzt. In diesen Kollegien erfinden die Professoren neue Regeln des Ackerbaues und »der Baukunst, neue Instrumente und Geräte für alle Gewerbe und Manufakturen. Das Unternehmen läuft darauf hinaus, daß ein Mann die Arbeit von zehn verrichtet«.

Zur Zeit des französischen Bürgerkönigs Louis-Philippe haben viele Denker das Wachstum der beiden »Riesen« USA und Rußland vorausgesehen. Die entsprechenden Voraussagen Tocquevilles sind bekannt. Jouvenel zitiert aber auch einen Ausspruch des späteren Kaisers Napoleon III. aus dem Jahre 1839:

»Mit Bedauern sage ich, daß meiner Ansicht nach heute nur zwei Regierungen die ihnen zugedachte Aufgabe richtig erfüllen; es sind die beiden Riesen am Ende der Welt, der eine am Rande der Neuen, der andere am Rande der Alten Welt. Während sich unser altes Europa wie ein Vulkan gebärdet, der sich selbst verzehrt, gehen die beiden Nationen des Ostens und des Westens ohne Zögern ihrer Erfüllung entgegen, die eine durch den Willen eines einzelnen, die andere durch die Freiheit.«

Andererseits fehlt es auch nicht an Beispielen für Zukunfts-Irrtümer bedeutender Männer. So habe, schreibt Jouvenel, Talleyrand auf dem Wiener Kongreß alles getan, um Sachsen zu erhalten und dafür Preußen das linke Rheinufer zu verschaffen, das es selber gar nicht gewollt hatte. Frankreichs großer Außenminister habe damit die französische Niederlage von 1870 entscheidend mit vorbereitet

Dennoch wird Jouvenel nicht zum Pessimisten. Er ist überzeugt davon, daß die Fortschritte der Prognostik, etwa in den Wirtschaftswissenschaften, bald auch in den Moral- und Humanwissenschaften ähnliche Früchte tragen werden.

Jouvenel lehnt zwar den von mir 1943 geprägten Begriff Futurologie ab, da er angeblich eine Sicherheit der Voraussage verspreche, die nicht zu erreichen sei. Doch ob er es wahrhaben will oder nicht, Jouvenel selbst ist und bleibt nicht nur ein »Künstler« der Vorausschau, sondern auch ein Bahnbrecher auf dem Gebiet, das vor bereits hundert Jahren Friedrich List als »Wissenschaft der Zukunft« bezeichnet hat und das heute in Deutschland und im Ausland immer häufiger auch als Futurologie bezeichnet wird -- ein Begriff, der schließlich auch den Vorteil hat, daß er überall in der Welt leicht verstanden werden kann.

Ossip K. Flechtheim

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