Zur Ausgabe
Artikel 61 / 83

»Am liebsten lüge ich gedruckt«

Frankreich entdeckt deutsche Gegenwartsliteratur, Günter Graß ist Favorit. Die Publizistin Nicole Casanova hat jetzt Interviews mit dem »Butt«-Bereiter als Buch veröffentlicht.* Auszüge aus den deutschsprachigen Protokollen:
aus DER SPIEGEL 14/1979

FRAGE: Günter Graß, was ist von diesen Gesprächen zu erwarten? Sind Sie ein Mensch, der die Wahrheit sagt?

GRASS: Es ist meiner Mutter schon sehr früh aufgefallen, daß ich als Kind gelogen habe, ohne daß sie hinterher feststellen konnte, daß dieses Lügen den Sinn gehabt hätte, irgend etwas zu bekommen oder zu verbergen. Sie hat dann festgestellt, daß das Lügen bei mir offenbar ein Bedürfnis ist.

Es liegt wohl daran, daß mich die Wahrheit in bestimmten Situationen langweilt und ich dann anfange, die Wahrheit zu variieren oder andersherum zu erfinden. Das hat natürlich manchmal schreckliche Folgen.

Ich gebe diesen Lügen, wenn ich sie ausspreche, nur wenig Gewicht, denn am liebsten lüge ich gedruckt. Das steht auch sicher in Beziehung mit dem Hang zur Fiktion, zum Erzählen, zum Erfinden, zum Märchenerzählen in Formen, die uns heute möglich sind.

FRAGE: Aus welchem Milieu kamen Ihre Vorfahren?

GRASS: Der Hintergrund war bei meinem Vater Arbeiter und Handwerker, Tischler. Mein Großvater väter-

*"Atelier des métamorphoses«. Entretiens de Günter Grass avec Nicole Casanova. Verlag Pierre Belfond, Paris. 220 Seiten; 49 Franc.

licherseits hatte zum Schluß eine mittelgroße Tischlerei mit Gesellen und Lehrlingen, so wie ich es in den »Hundejahren« beschrieben habe.

Mütterlicherseits kommen die Kaschuben vom Land, und ein Teil der Familie lebt heute noch dort. Die haben so kleine Bauernhöfe gehabt, mit Hühnern, einer Kuh, zwei Schweinen und ein paar Morgen Kartoffelland, ein bißchen Gerste., ein paar Apfelbäumen. Das reichte nie ganz. Und entweder der Bauer oder sein Bruder oder die Kinder des Bauern haben außerdem noch in der ländlichen Industrie gearbeitet. Dieser ländliche proletarische Hintergrund veränderte sich in dem Moment, in dem die Eltern meiner Mutter vom Land in die Stadt gingen, nach Danzig.

Sie wurden Stadt-Kaschuben, sprachen dann deutsch und hatten natürlich den Hang, wie Proletarier der ganzen Welt (zum Leidwesen aller wohlgeborenen Söhne) -- sie wollten Kleinbürger werden.

Das ist der Hintergrund, in dem ich aufgewachsen bin: eine Zwei-Zimmer-Wohnung ohne Bad mit winziger Küche und Toilette auf dem Flur für vier Mietparteien. Ich habe also nie ein eigenes Zimmer gehabt als Kind, was sehr prägend für mich gewesen ist.

Meine Schwester und ich hatten unter den Fensterbänken des Wohnzimmers jeder eine Nische. Dort hatte ich meine Bücher und meine Sachen wie meine Schwester auch. Aber ein Zimmer habe ich nie gehabt.

FRAGE: Stieß der Nationalsozialismus bei Ihnen auf eine Ideologie, die ihm hätte im Wege stehen können, zum Beispiel der Katholizismus?

GRASS: Meine Mutter war katholisch. Mein Vater protestantisch. Der katholische Teil war stärker, so daß beide Kinder katholisch getauft wurden. Ich bin katholisch aufgewachsen, aber mehr auf eine laxe Art. Meine Mutter hat nicht gedrängt, aber sie sah es gerne, daß ich zur Kirche ging.

Ich bin auch bis zum 12. oder 13. Lebensjahr noch religiös gewesen. Und dann hat es für mich Prägungen gegeben, insbesondere durch einen Lateinlehrer, der auch im »Butt« vorkommt, Dr. Stachnik. Der wird übrigens zum erstenmal erwähnt in »Hundejahre«. Er war der Vorsitzende der Zentrumspartei, die auch längere Zeit gegen den Nationalsozialismus Widerstand geleistet hat, bis dann unter dem Prälat Kaas eine Schwenkung vollzogen wurde.

Stachnik dagegen war ein Mann, der als Vorsitzender der Danziger Zentrumspartei Mut bewiesen hat und auch in Stutthof im ZK gewesen ist und dann wieder zurückkam, seinen Unterricht fortsetzte. Ein für mich irritierender Mann mit seiner lateinischen Strenge. Und im absurden Gegensatz dazu war er als Katholik eigentlich nur an einem interessiert, an der Heiligsprechung der Dorothea von Montau, die im »Butt« eine große Rolle spielt.

FRAGE: Sie haben einmal geschrieben, daß der Katholizismus Sie anzieht wie ein rothaariges Mädchen ...

GRASS: Ja sicher, ich halte die katholische Lebensart, auch das Heidnische im Katholizismus für etwas sehr Vitales, und dort, wo es nicht mit katholischem Fanatismus und katholischer Ausschließlichkeit Hand in Hand läuft, heute für eine Lebensform, die lebbar ist, sehr bildhaft, sehr human ist.

FRAGE: Können Sie mir etwas über Ihre Arbeitsweise sagen? Sie haben mir zum Beispiel erzählt, daß Sie, als Sie 1956 nach Paris kamen, in Ihrem Gepäck einen poetischen Text hatten, der etwas mit der Gestalt des Oskar Matzerath zu tun hatte.

GRASS: Ja, das ist so eine merkwürdige Umkehrung. Auf dieser ersten Frankreichreise, die ich machte, war ich bis zur Provence gekommen und hatte dort ein langes, nicht sehr gutes, aber immerhin langes Gedicht geschrieben.

Es handelte von einem Säulenheiligen. Ein junger Mann, der in seiner Kleinstadt wohnte, plötzlich genug hatte von all dem, er war Maurer von Beruf, eine Säule baute, sich auf die Säule stellte und aus dieser erhobenen Position alles das sah, was um ihn herum passierte, und es reflektierte, lyrisch.

Das habe ich aufgegeben, allein schon, weil die statische Position keine Bewegungsfreiheit erlaubte. Und das Bild habe ich durch ein anderes ersetzt, ausgelöst durch Beobachtungen von Kindern im Alter von drei, vier Jahren, die zwischen Erwachsenen stehen mit einem ernsten Gesicht und undurchschaubar; man merkt denen nur an, daß sie die Erwachsenenwelt aus ihrer Perspektive wahrnehmen, auch kritisch wahrnehmen. So ist eigentlich der Oskar Matzerath ein umgekehrter, ein auf den Kopf gestellter Säulenheiliger.

FRAGE: Seit Beginn dieses Gesprächs stellte ich mir eine Frage: Wann haben Sie zwischen Krieg, Kaligrube, Reisen, bildhauerischer Arbeit, Zeichnen, Schreiben, Heirat und Kinderzeugen noch Zeit gehabt zum Lesen? Wie haben Sie diese Bildung erworben, die Sie ja tatsächlich besitzen?

GRASS: Ich bin ein ausgesprochener Autodidakt. Ich bin ein ungebildeter oder nur partiell gebildeter junger Mann gewesen. Mit 15 Jahren hörte bei mir die Schule auf, und als ich ernsthaft zum erstenmal ein längeres Manuskript zu schreiben begann, beherrschte ich nicht einmal die deutsche Rechtschreibung.

Die Erstfassung der »Blechtrommmel«, die von einem englischen Germanisten gefunden wurde und die ich mir dann Jahre später angesehen habe, steckt voller Rechtschreibfehler.

Der Vorteil von Menschen, die kein Abitur haben, ist der, daß sie ihr Abitur lebenslänglich machen. Sie sind also dauernd bemüht, das auszugleichen, während Leute, die ihr Abitur machen, oder gar den Doktor, hei diesem Wissensstand stehenbleiben. Eine gewisse Selbstgefälligkeit setzt ein. Sie sind gemachte Leute.

Dieser Gefahr war ich nie ausgesetzt. So hat sich meine Neugierde, mein Wissensdurst, mein Wissensdrang erhalten. Ich habe alles, was ich weiß und was ich für meine Art zu existieren brauche, mir selber erarbeitet.

FRAGE: Hatten Sie versucht, mit der Gruppe 47 nach ihrer Gründung Kontakt aufzunehmen?

GRASS: Nein, ich überhaupt nicht, weil ich mich in erster Linie als ein Bildhauer und Graphiker verstand, der, auch für mich sehr wichtig, geschrieben hat, aber es war eigentlich nicht mein ausgesprochener Ehrgeiz, Schriftsteller zu werden.

Der Gedanke an Veröffentlichungen hatte bei mir sekundären Charakter. Es ist eher ein Zufall gewesen, aus einer Laune heraus, einer Weinlaune heraus. Wir waren jung verheiratet, 1954 haben wir geheiratet, und da lasen wir in der »Frankfurter Allgemeinen« eine Notiz, daß der »Süddeutsche Rundfunk« einen Lyrik-Wettbewerb ausschreiben würde. Und da haben die Anna und meine Schwester, die auf Bestich war, aus meinen Gedichten ein paar ausgesucht und haben die dort hingeschickt mit meinem Namen, mit meiner Einwilligung natürlich.

Ich hatte das völlig vergessen. Da kam die Nachricht ein paar Monate später, ich hätte den 3. Preis gewonnen. Und so wie ich den 3. Preis bekam, kam dann die Einladung, zur Gruppe 47 zu kommen.

Es war 1955, und dann habe ich dort Gedichte gelesen und hatte einen Anfangserfolg durch diese Lesung. Und sofort Angebote von Verlegern. Ich bin also ein Sonderfall. Ich gehöre wohl zu den wenigen Autoren, die sich nie um einen Verleger bemüht haben, auch von Anfang an nicht.

FRAGE: Wonach Sie an den Tagungen der Gruppe 47 regelmäßig teilgenommen haben.

GRASS: Also, als ich dorthin kam, kannte ich nur vom Namen her Ingeborg Bachmann, Eich war mir ein Begriff, Böll in Maßen, das war schon alles. Mir war die Atmosphäre zunächst einmal unangenehm. Das waren so Menschen zum Teil in meinem Alter, die ungeheuer equilibristisch daherredeten; kaum hatten sie etwas gehört. hatten sie schon eine Meinung dazu.

Und ich war gewohnt, mit Bildhauern und Malern umzugehen, Leuten. die, wenn sie überhaupt sprachen, sich handwerklich ausließen, wie etwas gemacht wird. Während dort das Spekulative oder Ideologische oft im Vordergrund stand.

Ich habe dann einige Zeit gebraucht, um zu differenzieren, in diesem Angebot von mir unbekannten Menschen, und festzustellen, daß es da auch für mich eine ganze Menge zu erfahren und zu lernen gab. Zum Beispiel das Anhören von Texten, die ich nicht geschrieben hatte, das Tolerieren verschiedener Möglichkeiten, Literatur zu machen, ja die Notwendigkeit von Toleranz dieser Vielgestalt gegenüber.

Und auch das Formulieren der Kritik, die man vorzubringen hat. Während ich mich anfangs noch darauf beschränkte, etwas prima oder ganz große Scheiße zu nennen, differenzierte sich mein Urteilsvermögen im Laufe der Jahre.

FRAGE: Inzwischen besteht die Gruppe 47 nicht mehr. Ich nehme an, daß Sie an der letzten Tagung teilgenommen haben?

GRASS: Ja, das ist zu Ende. Und die Gruppe wird fehlen. Ich bin immer dagegen gewesen, ihre Arbeit einzustellen. Ich fand auch diesen Eklat in der Pulvermühle 1967, während der letzten Tagung, unsinnig: daß man sich einschüchtern ließ durch ein paar sich links verstehende Studenten aus Erlangen, einer »jeunesse dorée« linker Spielart, die es ja auch wohl in Frankreich gibt, die dort mit ihren tollen Miezen und Sportcabriolets angefahren kamen und der Gruppe 47 politischen Nachhilfeunterricht erteilen wollten.

Hans Werner Richter hat sich -- das ist das einzige, was ich ihm vorzuwerfen habe -- verschrecken lassen und hat dann aufgehört. Aber es war ja sein Recht. Es war ja seine Leistung in erster Linie, das über so lange und in so schwieriger Zeit aufrechterhalten zu haben. Und man muß das so hinnehmen, wie er es für richtig befindet.

Es hat dann ein, zwei Versuche gegeben, aber ohne ihn geht das nicht. Das hat sich herausgestellt. Den jungen Autoren fehlt das jetzt. Und der Kritik fehlt es auch. Es war in einem Land ohne Hauptstadt, bestehend aus Provinzen, notwendig, zumindest einmal im Jahr so etwas wie eine literarische Ersatzhauptstadt zu konstituieren, zu sagen: Das ist jetzt hier.

FRAGE: Bei unserem ersten Gespräch haben Sie mir gesagt, daß Sie über Ihre Privatperson nicht gern sprächen ...

GRASS: Das drückt sich nur aus in dem, was ich schriftlich von mir gebe. Und das im »Butt« ganz deutlich, aber in übersetzter Form. Ich lege auch keinen Wert darauf, meine von mir schon erwähnte Abhängigkeit von Frauen, die sicher problematisch ist, aber zu der ich stehe, nun auch noch zu erläutern.

FRAGE: Haben Sie Zweifel an sich selbst?

GRASS: Ja, natürlich habe ich die. Nur habe ich eine andere Einstellung dazu. Ich halte das oft für eine vegetative Störung. Ich bin nicht bereit, meinen Launen, meinen Melancholien, meinen Fluchtbedürfnissen tragisches Gewicht zu geben.

Ich setze dann meine Selbstbeobachtung, Reflexion und meine vitalen Talente dagegen. Und für mich haben diese meine Probleme, die Allerweltsprobleme sind, nur dann eine Bedeutung, wenn ich sie mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, sei es als Graphiker, sei es als Schriftsteller, übersetzt habe.

Da ich zum Beispiel einen ausgewachsenen Mutterkomplex habe, bin ich auch nicht bereit, diesen Mutterkomplex zum Psychiater zu tragen. sondern mit ihm zu leben.

FRAGE: Empfinden Sie ihn als Komplex, oder haben Sie das irgendwo gelesen?

GRASS: Ich empfinde es -- als angenehm. Menschen, die keine Komplexe haben, sind mir äußerst unangenehm. Alle Menschen, die sich als normal empfinden -- vor denen habe ich Angst. Ich finde Menschen, die ungehemmt sind, äußerst gefährlich. Die Hemmung ist des Menschen vornehmstes Abzeichen.

Wehe, wenn diese Hemmungen aufgehoben werden, dann wird er zur Bestie. Zum Beispiel die Hemmung zu töten -- wenn die nicht wäre! Wenn eine Ideologie oder nach dem Hegelschen Sinn das Recht der Geschichte Hemmungen aufhebt, dann werden sechs Millionen Juden vergast, dann werden Kulaken in der Sowjet-Union ermordet in Millionenzahl, weil die Geschichte das fordert. Dann wird im Sinne des Terrorismus nur noch liquidiert.

FRAGE: Was hat für Sie Lebenswert?

GRASS: Alles, was nicht steril ist. alles, was veränderbar ist, was sich verändert. Ob das die Jahreszeiten sind, ob das heranwachsende Kinder sind, ob das das wiederholbare Glück einer Umarmung ist, ob das ein rohes Stück Fleisch ist, das ich durch Kochkunst in etwas Genießbares verändere, ob es ein weißes Blatt Papier ist, das nichts ist, solange ich nicht etwas daraufkleckse.

Dieses Vermögen des Veränderns und des Wahrnehmens von Veränderungen, dieses Stück Gottähnlichkeit im Menschen, obgleich es Gott gar nicht gibt, nur das macht ihn aus, halte ich für lebenswert.

Das hält auch meine Neugierde aufrecht, und ich glaube, nur so kann man eigentlich Neugierde aufrechterhalten, indem man die unendliche Veränderbarkeit sieht, begreift und schützt.

Sie ist natürlich gefährdet durch alles, was steril ist. Steril sind auch die Ideologien mit ihrem Endziel, mit ihrem Ungenügen am bestehenden Menschen in seiner genialen Fehlkonstruktion und in ihrem Anspruch auf den Übermenschen, den sozialistischen Menschen, den Herrenmenschen und was immer uns in diesem Jahrhundert an inhumaner Zielsetzung geboten worden ist.

FRAGE: Ich erinnere mich an die italienische Übersetzung Ihrer Gedichte und die sie begleitenden Zeichnungen. Gewinnt die Erotik für Sie immer mehr an Bedeutung?

GRASS: Das kann ich nicht sagen. Das ist eine Phase gewesen, die sehr stark auch mit dem »Butt« zusammenhängt.

FRAGE: War das eine besondere Phase?

GRASS: In erotischen Phasen befinde ich mich immer.

FRAGE: In Ihren früheren Zeichnungen war das nicht so offensichtlich.

GRASS: Ich befinde mich ja nicht nur in erotischen Phasen.

FRAGE: Was gefällt Ihnen am Kochen? Die Zubereitung oder das Essen?

GRASS: Ich halte Kochen für einen schöpferischen Vorgang, der sich allerdings von den Künsten dadurch unterscheidet, daß man ihn unmittelbar vom Endprodukt her genießen kann.

Da wird nichts konserviert als Buch, als Bild, als Bauwerk, als Noten -- es beginnt mit dem Einkauf der Produkte, mit dem Umsetzen der Produkte, mit dem Verändern von Produkten durch den Vorgang des Kochens, Bratens, dann das weitere, das sich vom Kochen her gibt ...

FRAGE: Wenn Sie Frankreich einmal mit kritischen Augen betrachten, was würden Sie sagen?

GRASS: Was mich irritiert und auch mißtrauisch macht, ist diese merkwürdige Mischung aus bourgeoisem Verhalten und revolutionärer Rhetorik. Und -- was ich sehr kritisch sehe -- ist das Verhalten der Franzosen ihrer eigenen Geschichte gegenüber.

Für mich ist zum Beispiel Napoleon nicht nur ein Machtpolitiker gewesen, der ungeheuer viel Unheil über die verschiedensten europäischen Völker gebracht hat. Er war auch derjenige, der die Französische Revolution und damit die Hoffnung dieser Revolution in reaktionäres Gegenteil verkehrt hat.

Und trotzdem verstehen es die Franzosen, das alles in die Gloire Frankreichs öffentlich mit einzubeziehen. Wenn ich mir vorstelle, etwas ähnliches sollte eines Tages mal, und es gibt Anzeichen dafür, mit Hitler geschehen, bricht mir der Angstschweiß aus.

Ich verstehe auch nicht, wie zum Beispiel in Frankreich bei aller berechtigten Kritik den USA gegenüber ein so blindmachender Antiamerikanismus sich breitmachen konnte, und schließl ich den treuesten Verbündeten der Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik, mit einschloß -- wenn man doch gleichzeitig weiß und wissen muß, daß das Grauen des Vietnamkrieges durch Frankreich ausgelöst worden ist.

FRAGE: Welche Kontakte haben Sie persönlich zu Ostdeutschland?

GRASS: Ich bin sehr oft in Ost-Berlin gewesen in den letzten vier Jahren und habe dort Schriftstellerkollegen getroffen. Wir haben das getan, was sich eigentlich in der Tradition der Gruppe 47 verstehen läßt: Wir haben über Literatur gesprochen, und zwar am konkreten Text, indem wir vorgelesen haben aus entstehenden Arbeiten.

Ich bin überzeugt, daß besonders bei einer Vielzahl der Veranstaltungen in Privatwohnungen der Staat sein Ohr offen hatte. Es gibt von Kunert ein Gedicht, in dem er seinen Wohnort, die DDR, als ein »lauschiges« Land bezeichnet. Lauschig, dieses gemütvolle Wort im Deutschen: ein lauschiges Plätzchen am Waldesrand -- jetzt aber auf den Lauschangriff, das neue deutsche Wort bezogen, die irgendwo versteckte Wanze, die mithört.

Davon kann man ausgehen, daß das mitgehört worden ist, und diejenigen, die mitgehört und das womöglich in mühseliger Arbeit aufgeschrieben haben, können -- wenn sie nur wollen

aus diesen Gesprächen von Schriftstellern des Westens und des Ostens eine Menge über Literatur erfahren.

Nur fürchte ich, daß die Ignoranz auf staatlicher Seite so groß ist, daß sie diese gratis erteilte Lektion nicht wahrhaben wollen. Aber der Hinweis sei immerhin gestattet, daß unter Umständen diese Wanzen für diejenigen, die sie gepflanzt haben, so etwas wie Schulfunk sein könnte.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 61 / 83
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren