Zur Ausgabe
Artikel 30 / 102

Amerika im Dschungelfieber

Jahrzehntelang hatten sie in Hollywood nichts zu melden und wenig zu tun - doch plötzlich ist den schwarzen Filmern der Durchbruch gelungen. Regisseure wie John Singleton, Mario Van Peebles und vor allem Spike Lee, dessen neuer Film jetzt in die deutschen Kinos kommt, erobern die Leinwand für die Farbigen.
aus DER SPIEGEL 44/1991

Es mag schon sein, daß Gott den Rest der Welt erschaffen hat - doch das junge Land Amerika ist erst im Kino erfunden worden.

Es waren Ausländer, Außenseiter und Leute aus der Unterschicht. Sie kamen aus Irland und Sizilien, aus den jüdischen Vierteln von Osteuropa und aus der Lower East Side von New York.

Ihr Englisch war schmutzig und ungepflegt, ihr bißchen Bildung stammte von der Straße. Doch alle hatten einen großen, unerfüllten Traum: Sie wünschten sich ein Land, in dem die Form der Nase nicht so wichtig war und wo die Herkunft keine Rolle spielte.

Deshalb dachten sie sich Bilder aus, die ganz einfach waren. Deshalb erzählten sie Geschichten, die nur vom Wesentlichen handelten: von Freiheit, Abenteuer und der Hoffnung, daß einer alles schaffen kann, wenn er nur unerschrocken ist. Deshalb formulierten sie in ihren Filmen jene Glücksversprechen, deren Einlösung die Zuschauer von der Wirklichkeit fordern durften. Und deshalb lernte Amerika im Kino, daß die Realität an der Illusion zu messen sei - und nicht umgekehrt.

Es gab nur eine Minderheit, die keinen Zutritt hatte, und diese Minderheit war schwarz. Es gab keine schwarzen Studiobosse, keine schwarzen Regisseure, und die schwarzen Schauspieler durften den schönen Traum nur durch die Hintertür betreten. Sie wurden als Domestiken gebraucht, als Lastenträger und als Clowns. Sie sollten ihren blassen Herren dienen, die Heldenrollen aber waren Weißen reserviert.

Und als dann, in den Fünfzigern, auch in Hollywood die Nachricht ankam, daß Schwarze um mehr Rechte kämpften - da bekamen sie in den Filmen zwar bessere Rollen, doch die wirklich guten kriegten sie nicht: Stars wie Harry Belafonte, Sidney Poitier und Dorothy Dandridge mußten nicht mehr die Koffer schleppen. Um so schwerer aber trugen sie an der Last der Symbole und Metaphern. Der schwarze Mann, die schwarze Frau standen niemals für sich selbst, stets nur fürs Dunkle und Verbotene, für Wollust, Sünde, Sex.

Es hat lange gedauert, doch nun wehren sie sich. Die Jungs aus Harlem oder Watts mußten erst das College abschließen und die Prüfungen der Filmhochschulen bestehen, und als die Ausbildung fertig war, da konnten sie auch noch schnorren gehen: Der Weg von Harlem nach Hollywood ist weiter und beschwerlicher als der Aufstieg aus den Elendsvierteln auf Jazzklub-Bühnen oder in die Plattenstudios - mit dem Kaufpreis eines Saxophons kann ein Regisseur noch nicht einmal den Vorspann seines Films bezahlen.

Es gibt, trotz allem, schon seit Jahren einen schwarzen Underground - doch erst in diesem Sommer hat das schwarze Kino seinen großen Durchbruch geschafft. Das liegt nicht etwa daran, daß die Kämpfer wider alle Diskriminierung plötzlich die Macht in Hollywood erobert hätten. Der Grund ist simpler: Auch schwarze Kinogänger zahlen gutes Geld für ihre Eintrittskarten.

John Singleton aus Watts war 22, studierte noch und hatte keinerlei Erfahrung im Geschäft, als ihm die Firma Columbia einen Filmvertrag anbot und ein Budget von sechs Millionen Dollar. Singleton drehte »Boyz N the Hood«, einen kargen und sehr ernsten Film, der vom Haß, von der Hoffnungslosigkeit und der Gewalt in den schwarzen Vierteln von Los Angeles erzählt. Als »Boyz N the Hood« diesen Sommer in die amerikanischen Kinos kam, priesen die Kritiker den Regisseur als junges Genie, und an den Kinokassen hat der Film schon mehr als 55 Millionen Dollar eingespielt.

Mario Van Peebles aus Manhattan hat »New Jack City« (SPIEGEL 35/1991) inszeniert, einen Film, der nicht ganz soviel Geld einbrachte - der aber jene, die ihn sahen, noch heftiger berührte: Van Peebles hat die Musik der Schwarzen in Bilder übersetzt, hat seine Story vom Aufstieg und Fall eines Drogendealers mehr als Rap denn als Erzählung inszeniert - und damit seinem Publikum gezeigt, daß schwarzer Rhythmus, Hip-Hop oder House, nicht nur die Tänzer, sondern auch die Kinogucker in Bewegung bringt.

Spike Lee aus Brooklyn schließlich gilt unter Schwarzen längst als Superstar, und für den Kritiker der Village Voice zählt er zu den »vier oder fünf bedeutendsten Figuren im zeitgenössischen amerikanischen Film«.

Der Mann ist zornig, böse und umstritten; er gibt sich rotzig bei Interviews und heizt mit seinen Filmen gern Konflikte an. »Do the Right Thing« zeigte, wie ein Schwarzer von Polizisten ermordet wird und wie es gleich darauf zu blutigen Krawallen kommt - und prompt machte man Lee für echte Rassenunruhen haftbar. »Mo'' Better Blues« führte vor, wie zwei weiße Impresarios ihre schwarzen Musiker um deren Honorar betrügen, und weil die Burschen krause Haare haben und dicke Brillen, krumme Nasen, schimpften Amerikas Juden den Regisseur einen Antisemiten.

Spike Lee ist nicht sanfter und versöhnlicher geworden in »Jungle Fever«, seinem neuesten Film, obwohl er, anfangs, nur die sanften Dinge inszeniert. Sein Held heißt Flipper Purify (Wesley Snipes), liebt leidenschaftlich seine Frau und zärtlich seine kleine Tochter; er hat Erfolg als Architekt, verdient viel Geld und lebt das ruhige Leben jenes schwarzen Mittelstands, der von den Rassengegensätzen _(* Hattie McDaniel mit Vivien Leigh in ) _("Vom Winde verweht« (1939). ) nichts mehr wissen will.

Die Heldin ist weiß und auch sehr nett; sie heißt Angela Tucci (Annabella Sciorra) und wohnt in Bensonhurst, dem Viertel, wo die italienischstämmige Unterschicht unter sich ist. Angela arbeitet hart als Sekretärin, und abends kocht sie noch für ihren Vater und zwei Brüder, die Frauen hassen, Neger hassen und auch sonst niemanden leiden können, der nicht so stumpf ist wie sie selbst. Daß sie einen neuen Boß hat, der schwarz ist und auf den lächerlichen Namen Flipper hört, das wagt Angela diesen Deppen gar nicht zu erzählen.

Die Nächte sind heiß in Manhattan, der Architekt macht Überstunden und lockert die Krawatte, die Sekretärin zieht luftige Pullover an - und wenn die beiden allein sind miteinander, scheinen magnetische Kräfte den schwarzen Mann und die weiße Frau aufeinander zuzutreiben. Immer näher kommen sie sich, immer stärker wird die Spannung, und eines Abends brennen alle Sicherungen durch: Sie wollen einander berühren und begreifen, ihre Neugier wird zu purer Gier, und dann lieben sie sich auf dem Arbeitstisch, wild und schamlos, wie das nur zwei Fremde tun.

Sie werden einander fremd bleiben, das stellt Spike Lee gleich in den nächsten Szenen klar, wenn er zeigt, wie wenig sie sich mitzuteilen haben: Sie teilen keine gemeinsame Vergangenheit, und ihre Gegenwart ist flüchtig wie ein heimlicher Kuß. Und daß sie eine Zukunft hätten, das glauben sie im Grunde selber nicht - obwohl sie, eher notgedrungen, zusammenziehen werden. So groß, das suggeriert der Regisseur, ist die Entfernung zwischen Schwarz und Weiß, daß die körperliche Vereinigung sie nicht überwinden kann.

Nur für Spike Lee scheint dieser Abstand kein Problem zu sein. Er porträtiert die Italiener so genau wie sonst nur Scorsese und Coppola. Er inszeniert das schwarze Leben in Manhattan mit jener Präzision und Sicherheit, zu der nur Insider fähig sind. Er läßt die Slangs und Redensarten beider Gruppen fast musikalisch miteinander spielen (wovon die deutsche Fassung wenig übrigläßt). Er ist so nah an seinem Personal, daß man fast meint, es gehe in dem Film nur um schwarz-weiße Wirklichkeit.

Das ist ein populäres Mißverständnis; es hat dazu geführt, daß viele in Spike Lee vor allem einen Hetzer sehen, einen Propagandafilmer und Rassisten. Das ist der Grund, weshalb in Kritiken und Diskussionen stets nur darüber gestritten wird, was die Helden tun und was die Gründe dafür sind - und nie darüber, was es überhaupt zu sehen gibt.

Worum es wirklich geht, macht eine kleine Szene klar, die kurz und ungeheuer traurig ist: Da sitzt der schwarze Mann mit seiner weißen Frau in einer neuen Wohnung; sie haben keinen Grund zu streiten, keinen Anlaß, sich zu lieben; sie haben nichts zu reden, nichts zu schweigen, nichts zu tun. Sie sehen beide einsam aus - was ihnen fehlt, sind Bilder für ihr junges Glück. Denn wenn die Identität der Amerikaner aus dem Kino stammt, ist jedes Bild als Vorbild gut - doch das, wovon es keine Bilder gibt, das gibt es gar nicht wirklich: Dem Paar fehlt die Bestätigung durch Filme, Fernsehen, Video.

An einem anderen Abend sind die beiden gut gelaunt, sie streiten auf der Straße scherzhaft miteinander, sie spielen Boxen, balgen, raufen - und plötzlich sind da diese beiden Cops, die ihre Revolver ziehen, den Schwarzen an die Wand stellen und ihn am liebsten niederschlagen wollen: Die Schöne und das Biest, King Kong und die weiße Frau - die Szenen sind bekannt, und wie man sie zu deuten hat, darüber gibt es keinen Zweifel. Die Bilder aus Amerika sind immer noch schwarz-weiß gerastert, und schwarz bedeutet: böse.

Gegen diese Raster kämpft Spike Lee mit seinen Filmen: Er kann keine neuen Geschichten erfinden, solange die sich aus bekannten Bildern zusammensetzen. Und er kann keine neuen Bilder erfinden, weil es nicht unendlich viele Standpunkte für die Kamera gibt, wenn einer bloß inszenieren will, wie ein Mann und eine Frau spazierengehen. Das ist das Dilemma jedes schwarzen Films: Er muß mit dem vorhandenen Vorrat von Kinozeichen arbeiten - und darf doch deren Bedeutungen nicht einfach akzeptieren.

Folglich tobt hier kein moralischer, sondern ein semiotischer Kampf: Die Wirklichkeit wird sich erst ändern, wenn neue Vorbilder gefunden sind. Und wenn die Bilder sich kaum wandeln, dann müssen die Veränderungen beim Betrachter entstehen. Spike Lee will neue Blicke auf die alten Szenen provozieren, will eine neue Lesart für die alten Zeichen. Für diese Ziele streitet Lee, und dabei ist ihm jedes Mittel recht.

Er drängt sich seinen Helden auf, weil solche Nähe in der Wirklichkeit nicht möglich ist. Er guckt gnadenlos in die Häuser und überschreitet dabei alle Grenzen der Peinlichkeit. Er läßt die Leute brüllen, explodieren - und hofft auf jene Explosion, die Zeichen und Bedeutung auseinanderschleudert.

Und doch bleibt Lee ein schwarzer Sisyphus, der seinen Kampf nie ganz gewinnen kann: Wer Angst hat vor dem schwarzen Mann, das zeigen alle Reaktionen in Amerika, der wird sie nicht verlernen. Wer Italiener nicht ausstehen kann, findet hier viel Nahrung für sein Vorurteil. Und wer im Kino nicht denken will, wird »Jungle Fever« hassen.

Es mag schon sein, daß Amerika erst im Kino erschaffen worden ist. Doch »Jungle Fever« wird, wie all die schwarzen Filme, erst in den Köpfen seines Publikums erfunden.

Claudius Seidl

* Hattie McDaniel mit Vivien Leigh in »Vom Winde verweht« (1939).

Zur Ausgabe
Artikel 30 / 102
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren