POP »Amerika ist rückständig«
SPIEGEL: Ms Jackson, gerade ist »All Nite (Don''t Stop)« erschienen, die neueste Single aus Ihrer aktuellen CD »Damita Jo«. In der Vergangenheit haben Sie sich auf Ihren Alben häufig mit Ihren aktuellen Lebensphasen auseinander gesetzt - »Control« zum Beispiel markierte die Emanzipation von Ihrem dominanten Vater, »Velvet Rope« thematisierte Ihren Kampf mit Depressionen und die Entwicklung Ihrer Sexualität. Worum geht es diesmal?
Jackson: In meinem Leben und in meinen Songs dreht sich zurzeit alles um die Liebe, in all ihren Facetten - angefangen bei schwärmerischer, unschuldiger Verliebtheit bis hin zu leidenschaftlichem Sex. Obwohl ich schon zwei Ehen hinter mir habe, erfahre ich gerade zum ersten Mal, wie es ist, eine gesunde Beziehung zu führen.
SPIEGEL: Was unterscheidet Ihre Beziehung mit dem Produzenten Jermaine Dupri von Ihren beiden Ehen?
Jackson: Die Art und Weise, wie er mit mir umgeht, auch noch nach Jahren. Am Anfang liefen meine Beziehungen immer gut, im Alltag wurde es dann bitter für mich - meine beiden Ehemänner hatten Drogenprobleme und haben mich oft schlecht behandelt. Bisher hat es sich ausgezahlt, dass ich mir dieses Mal mehr Zeit gelassen und experimentiert habe.
SPIEGEL: Wie sahen Ihre Experimente aus?
Jackson: Ich hatte kurze Affären und One-Night-Stands. Mit Männern, die mir nicht zu viel bedeuteten. Andere machen solche Erfahrungen, wenn sie Teenager sind. Ich musste erst Mitte dreißig werden.
SPIEGEL: Nach Ihrem Skandalauftritt in der Halbzeitpause des US-Football-Endspiels um den Super Bowl, als bei einer Tanzeinlage Ihre rechte Brust entblößt wurde, wurden Sie in der Öffentlichkeit regelrecht an den Pranger gestellt.
Jackson: Ich wurde benutzt. Der Vorfall war das perfekte Vehikel, die amerikanische Öffentlichkeit von den katastrophalen Zuständen der Innen- und Außenpolitik abzulenken. Die Menschen sollten vergessen, dass Teile der Gesellschaft immer mehr verelenden und dass der Präsident die Kontrolle über den Krieg im Irak verloren hat. Deshalb hat man mich zu einem Dämon erklärt, nur wegen einer nackten Brustwarze.
SPIEGEL: In Europa mutete diese Hexenjagd ein wenig absurd an, bei all der Gewalt und dem Sex in den amerikanischen Medien.
Jackson: Der ganze Wirbel ist dumm und bigott. Man muss sich nur die Werbung und das Fernsehprogramm ansehen, alles dreht sich um Sex. Viagra und Brustvergrößerungen sind Dauerthemen. Diese Reaktionen zeigen, wie dumm und rückständig Amerika oft ist. Eine gewaltige Aufregung um nichts. Dabei gibt es so viel Wichtigeres in der Welt, Obdachlosigkeit, Aids, die Verwahrlosung von Kindern. Und Amerika interessiert sich nur für meine Brustwarze.
SPIEGEL: Gefällt Ihnen die Bezeichnung »Nipplegate«?
Jackson: Machen Sie Witze? Eine totale Überreaktion! Wer kann allen Ernstes ein Popkonzert, bei dem die Kleiderordnung missachtet wird, mit Watergate in Verbindung bringen, einem politischen Skandal von nationaler Tragweite?
SPIEGEL: Dennoch hat Ihre Brust die Entertainment-Branche verändert - in den USA werden Live-Übertragungen wie die Oscar-Verleihung mit fünf Sekunden Verzögerung gesendet, damit auf solche Entgleisungen reagiert werden kann.
Jackson: Absurd, oder? Dabei rannte bei den Oscars schon in den Siebzigern ein Exhibitionist mit nacktem Hintern über die Bühne. Und das hat auch niemanden traumatisiert! Vielleicht werde ich irgendwann meinen Enkelkindern davon erzählen und herzlich lachen.
SPIEGEL: Kürzlich wurden Sekunden Ihres Auftritts in der Talkshow von David Letterman zensiert.
Jackson: Ja, weil ich laut »O Jesus!« gestöhnt habe, als Letterman mich auf den Super-Bowl-Skandal ansprach. Am nächsten Tag wurde sogar in den Nachrichten darüber berichtet; es hieß, ich hätte im Fernsehen geflucht. Es wird immer irrwitziger.
SPIEGEL: Bisher waren meist Ihre Geschwister Michael und LaToya für Skandale zuständig, jetzt stehen Sie zum ersten Mal selbst im Mittelpunkt der öffentlichen Aufregung. Motiviert der Name Jackson die Medien, besonders hart mit Ihnen ins Gericht zu gehen?
Jackson: Ich denke schon, dass auf unsere Familie oft besonders böswillig eingeprügelt wird. Wir leben wie unter einem Mikroskop, die Jacksons beschäftigen die amerikanische Öffentlichkeit beinahe ebenso wie die Kennedys. Langsam begreife ich, was Michael in den vergangenen Jahren immer wieder durchstehen musste.
SPIEGEL: Sie distanzieren sich nicht von Ihrem Bruder, dem zurzeit Kindesmissbrauch vorgeworfen wird?
Jackson: Im Gegenteil. Gerade in solchen Situationen ist der Rückhalt der Familie besonders wichtig. Ich versuche ihn daran zu erinnern, dass ich seine kleine Schwester bin, die ihn liebt und für ihn da ist. Krisen bringen uns nur näher zusammen.
SPIEGEL: Würde Ihr aktuelles Album weniger gut gelaunt und sexy klingen, wenn Sie es heute aufnehmen würden?
Jackson: Darauf können Sie wetten. Es würde deutlich wütender ausfallen, ich hätte eine Menge zu den Themen Rassismus und Doppelmoral zu sagen.
INTERVIEW: JÖRG BÖCKEM
* Links: bei ihrem Skandalauftritt mit dem Sänger JustinTimberlake im Februar in Houston, Texas.