Herbert Singer über Friedrich Burschell: "Schiller" ANEKDOTEN AUS HEILER WELT
Als sie bestanden hatten, erhielten sie zur Belohnung je zwei Kreuzer; 'soviel Barschaft hatten wir sonst nicht leicht beisammen'. Sie beschlossen, sich mit dem vielen Geld einen guten Tag zu machen. Sie zogen zum Hartenecker Schlößle, wo S. eine kalte Milch verlangte. Sie war nicht zu haben, dafür sollte Käse aufgefahren werden. Aber der Vierling, die geringste Portion, hätte vier Kreuzer gekostet ohne das Brot, auf das sie nicht verzichten wollten.
»Sie wanderten nach Neckarweihingen weiter, wo sie im allerletzten Wirtshaus endlich eine kalte Milch bekamen ... Die Zeche machte drei Kreuzer aus, und auf dem Heimweg, der ihnen wieder Appetit gemacht hatte, verjuxten sie den Rest an einem Halbenkreuzerwecken und einer Handvoll Johannisträuble, in die sie sich brüderlich teilten. Das waren damals die Freuden der Jugend.«
Diese kümmerliche Anekdote, der seit Jahrhunderten beargwöhnten und gemaßregelten »Jugend von heute« mit pädagogisch warnendem Zeigefinger dargereicht, wo wird man sie vermuten? Hebel hat besser erzählt. Also vielleicht bei Rosegger oder Ottille Wildermuth, die vor hundert Jahren das einfache Leben gepriesen haben, oder bei einem vergessenen Autor, der in den Lesebüchern des Bayerischen Schulbuchverlages sein verjährtes Dasein fristet.
Wer dies mit guten Gründen vermutet, irrt leider. Das Geschichtchen steht in einem Buch, das von einem der aufsässigsten Deutschen handelt, den sein Publikum je mißverstanden hat: von Friedrich Schiller. Friedrich Burschell, der mit seinem Gegenstand nichts gemein hat als den Vornamen, hat sich unterfangen, auf über 500 Seiten Schillers Lebensweg zu beschreiben. Rowohlt hat das korpulente Opus verlegt, wenn nicht angeregt, und mit Fanfarenstößen in die literarische Öffentlichkeit entlassen, offenbar in der Hoffnung, das Buch werde alsbald Volksbücherein, Gabentische und Bestseilerlisten zieren. Die Anfangsauflage beträgt 25 000 Exemplare. Das hat mit seinem Goethe der Friedenthal getan ...
Friedrich Burschell ist ein angesehener Journalist und nähert sich seinem achtzigsten Jahre. Seine Reputation ist anscheinend so unantastbar, daß die Lektoren des Hauses Rowohlt, von denen es heißt, daß sie intelligent und urteilsfähig seien, nicht gewagt haben, sein Manuskript zu lesen. Denn sonst hätten sie gewiß Anstoß genommen an Vokabeln wie »Bigottismus«, die dem Wortschatz der deutschen Sprache hätten erspart bleiben müssen, an Bezeichnungen wie »fünfzig bis sechzig Schiller umfassende Schlafsäle« oder »reimlose Distichen«, ais ob es gereimte je gegeben hätte, oder an Wendungen wie der vom »Glanz einer Sprache, die man nicht anders als inspiriert bezeichnen kann«.
Glanz der Sprache kann man Burschell leider nicht bescheinigen. Wenn Schiller nicht von seinen »Söhnen« oder »Jungen« berichtet, sondern im Stile der Zeit von seinen »Knaben«, so schreibt Burschell diese Vokabel, die heute nur noch in lateinischen Schulgrammatiken vorkommt, treuherzig ab. Niemand hat ihn daran gehindert,
Bei der Anpreisung des Buches hingegen hat sich der Verlag geradezu verausgabt. So bescheinigt der Lobredner dem Autor den »souveränen Blick des Kenners«. Bei genauerem Zusehen entpuppt sich der souveräne Blick als der eilfertige Fleiß eines Kompilators.
Burschell hat ausgeschrieben, was immer ihm zur Verfügung stand, vor allem die langatmigen Schillerbiographien, die der -- wie er sich auszudrücken beliebt -- »noch einigermaßen heilen Welt des 19. Jahrhunderts« entstammen. Daher seine Anekdötchen-Seligkeit. Er verschweigt nicht, daß eine Reise Schillers durch einen »längeren, durch eine hübsche Kellnerin in Schwetzingen verursachten Aufenthalt« verzögert wurde und teilt mit, daß die Dienstmagd« die den Landflüchtigen in Bauerbach versorgte, Ihn »in guter Erinnerung behalten« habe, Das Kapitel, das von Schillers nicht ungetrübten Beziehungen zu Fichte handelt, endet: »Zugunsten Fichtes darf nicht unerwähnt bleiben, daß er sich später wieder mit Schiller aussöhnte und bis zum Ende seines Lebens mit größter Hochachtung von ihm sprach.« Jedoch fühlt sich der souveräne Kenner nicht verpflichtet, den überkommenen Anekdotenschatz zu überprüfen. Luise Vischer, einer Zimmervermieterin zu Stuttgart, die Schiller als Laura besungen hat, dichtet er einmal drei, ein andermal vier Kinder an. Sie hatte zwei.
Der Kenner, der souveräne, kann es sich natürlich auch ersparen, über seine Quellen Auskunft zu geben. Daß die »Jungfrau von Orleans« eine Oper ist, hat er von Thomas Mann erfahren, daß »Kabale und Liebe« leider ein melodramatisches und reißerisches Machwerk sei, steht bei Erich Auerbach. Aber das geht Burschells Leser offenbar nichts an.
Der Leser wird vielmehr nachdrücklich ermahnt, sich in Begeisterung zu üben. Burschell harmonisiert und idealisiert Schiller, und der Verlag vergilt es ihm und rühmt, er biete »das lange schon fällige, von Bildungsideologie und Olympierkult befreite Schiller-Bild«. Ohne Zweifel ist ein solches Porträt erwünscht. Doch der Autor scheint die letzten Jahrzehnte verschlafen zu haben. Der gipserne Schiller des 19. Jahrhunderts, gegen den er angeblich ankämpft« existiert nicht mehr. Benno von Wiese hat einen Schiller für Germanisten präsentiert, imponierend und ein wenig bläßlich, Emil Staiger einen Schiller für die Stillen im Lande, erbaulich und moralisch, Gerhard Storz einen Schiller für Freunde der Dichtung. Burschell bietet einen Schiller für deutsche Kleinbürger, einen Schiller für Bildieser.
Wie meint der Waschzettel? »In diesem Buch begegnet uns die gewinnende Größe eines passionierten Geistes, umweht vom Lebenshauch einer fruchtbaren und spannungsgeladenen Epoche.« Der große Geist beweist sich für Burschell vor allem in der Bedenkenlosigkeit des Schuldenmachens. Schiller nimmt unablässig Darlehen auf, in Gulden, Talern, Karolins, Dukaten, Louisdors« und Burschell hält es nicht für notwendig, den Leser über den Wert dieser Geldsorten aufzuklären. Dies hält er vermutlich für Literatursoziologie,
Burschell erzählt die Jugendgeschichte Schillers, von der man bezweifeln kann, ob sie für Leser des 20. Jahrhunderts so außerordentlich interessant ist, als musterhafte Biographie eines ringenden, aus Niederungen emporstrebenden Geistes, ja als Lehrbeispiel für die Karriere eines großen Mannes. Der arrivierte Schiller, der Professor und Familienvater, der Freund Goethes wird ihm uninteressant. Gegen Ende hin verdünnt sich die Biographie, die breite Anekdotenwirtschaft wird gerafft zum Überblick über Jahre und Jahrzehnte.
Ein »Bild« Schillere ist hinter dem Wust von Fakten und Histörchen kaum zu gewahren. Nur undeutlich zeichnet sich der Umriß eines Ausbundes bürgerlicher Tugenden ab, eines tüchtigen und braven Mannes, der kleinen Verhältnissen entstammt und es durch Fleiß und Ausdauer zu etwas gebracht hat.
Die Größe, Anmut und Würde Schillers wird ebensowenig deutlich wie das Bedenkliche und Unheimliche, ja Satanische, das die Zeitgenossen an diesem »Lucifer mit dem Keime des Abfalls« ebenso fasziniert wie beunruhigt hat. Die Rücksichtslosigkeit, die Herrschsucht Schillers, die weltkluge Diplomatie, die ihm zu Gebote standen, die Rabulistik seiner Argumentation, seine sarkastische Verachtung aller Mittelmäßigkeit, seine Feindschaft gegen die kruden Fakten der Natur, ja gegen die Welt schlechthin -- das alles wird hinter einer ehrbaren moralischen Fassade versteckt.
Den Kampf um und mit Goethe, der sich hinter den liebenswürdigen Umgangsformen der Weimaraner verbirgt, hat Burschell offenbar gar nicht bemerkt; er wartet mit dem abgenutzten Schlagwort von den »Dioskuren« auf. Über Leiden und Größe Schillers erfährt man aus Thomas Manns knapper Skizze »Schwere Stunde« mehr als aus Burschells ganzem Buche, ganz zu schweigen von den Einsichten in Schillers Leistung, die Manns »Versuch über Schiller« enthält.
Von Schillers Werk nimmt Burschell ohnehin nur zögernd Kenntnis. Den »Räubern« widmet er zwei Seiten, dem »Wallenstein« mehrere Kapitel, in denen er allerdings über Gehalt und Bedeutung dieses großartigen und rätselvollen Werkes nichts zu sagen weiß. Über die »Braut von Messina«, über »Wilhelm Tell«. über »Demetrius« hat er nichts mitzuteilen. Statt dessen windet er sich eine halbe Seite lang, um das »Lied von der Glocke« zu »retten«. Über die philosophischen Schriften berichtet er ausführlich, freilich nichts, was nicht anderswo verläßlicher zu erfahren wäre.
Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel war der Brief eines Buchhändlers zu lesen, der dem Verlag bescheinigte, das Buch sei eine »spannende und erschütternde Lektüre«, und er sei von dem »heroischen, lebenslangen Kampf Schillers« außerordentlich beeindruckt.
Patentanten, Leihbücherelen, Borromäusvereinen und Provinztheatern kann man den Wälzer angelegentlich empfehlen.