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Anfang der Aufrichtigkeit

Jurek Becker, 40, wurde mit dem Roman »Jakob der Lügner (1969) international bekannt. Wegen seines Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung wurde er aus der SED ausgeschlossen, 1977 trat er seinerseits aus dem DDR-Schriftstellerverband aus. Seit einigen Monaten hält sich Becker im Westen auf, vor kurzem folgte er einer Einladung als »Writer in Residence« ans Oberlin College in Ohio, USA.
Von Rolf Becker
aus DER SPIEGEL 10/1978

Ein Motiv vieler Rezensenten in der Bundesrepublik, sich mit DDR-Literatur zu befassen, so hat Jurek Becker im SPIEGEL-Gespräch vom Juli 1977 erklärt, sei sicher die außer.: literarische Erwartung, »irgendeine Art von Unruhe zu stiften«.

Da mag was dran sein. Um so besser für uns, daß wir bei der Erörterung von Beckers neuem Buch, hätten wir denn solche Erwartungen, mit diesen nun wirklich zu spät kämen: Die Unruhe hat das Buch, hat sein Autor, hat dessen Obrigkeit inzwischen ausreichend selber besorgt.

Beckers Roman »Schlaflose Tage«, in der DDR geschrieben, durfte dort nicht erscheinen. Dem Verfasser wurde -- neue Variante im Umgang der DDR-Mächtigen mit renitenten Geistern -- eine Art Urlaub von der DDR bewilligt. Ob es ein Urlaub bleibt, ob also Jurek Becker nach zwei, drei Jahren aus dem Westen in die DDR zurückkehren will, zurückkehren kann, ist ungewiß; ich halte es für unwahrscheinlich.

Das Buch spricht zu sehr dagegen. Beckers kleiner (vierter) Roman -- eher doch eine zügige Erzählung -- ist von einer ruhigen Entschiedenheit und Klarheit, die im übrigen auch jenes andere, oft problematische Verfahren westlicher Rezensenten beim Umgang mit Ost-Literatur überflüssig machen: das Zwischen-den-Zeilen-Suchen nach oppositionellem Hintersinn, nach gewissermaßen politanstößigen Stellen.

Seine »Identität« habe sich geändert, sagte Becker im letzten Juli, er habe endlich einen »Verdrängungsmechanismus amputiert«, taktisches Verhalten liege nun jenseits seiner Möglichkeiten, und das komme wohl auch daher, daß er jetzt an die 40 sei und »plötzlich die Furcht spüre, mich mit 60 Jahren immer noch taktisch zu verhalten -- zugunsten von etwas, das dann gar nicht da ist«. Eben dies ist der Fall seines Romanhelden Karl Simrock, die Botschaft der »Schlaflosen Tage«.

Der 36 jährige DDR-Lehrer Simrock verspürt eines Tages zum erstenmal einen Herzschmerz. Es ist nur ein sanfter Druck, aber er genügt, Simrock an den Tod zu erinnern und aus dem Schlaf eines Lebens der bequemen Verdrängungen und ängstlichen Anpassungen aufzuwecken. Er erkennt, »mit welcher Sorgfalt er in der vergangenen Zeit alle die Gedanken verjagt hatte, die für seine Existenz von Bedeutung waren«, und beschließt, sein Leben von Grund auf zu ändern, das heißt vor allem: »sich mühen, endlich nach dem neuesten Stand seiner Erkenntnisse zu leben« und »aufrichtig zu sein. Nicht nur in Zeiten, da Aufrichtigkeit erlaubt ist«.

Den Anfang macht Simrock mit dem Ausbruch aus seiner abgestorbenen Ehe. Doch diese Midlife Crisis greift vom Privaten bald ins Politische über, besser: ihr Privates ist auch politisch. Simrocks Frau deutet es an: »Weil du so unglücklich darüber bist, daß sie dir in der Schule das Rückgrat gebrochen haben, trennst du dich von uns.«

In der Schule kommt es zu einer ersten Friktion, als Simrock seine Schüler darauf hinweist, daß ihre Beteiligung an einer 1.-Mai-Demonstration freiwillig sei -- woraufhin nur neun teilnehmen. Der stellvertretende Schuldirektor ermahnt Simrock: »Es gibt Leute, denen dein ausdrücklicher Hinweis auf die Freiwilligkeit der Teilnahme wie eine Kampfansage vorkommt.«

Entschlossen, künftig in seinem Unterricht »auch andere Ansichten als solche vorzutragen, die von ihm gefordert wurden«, beispielsweise einen »Unterschied zwischen tatsächlicher und angeblicher Freiwilligkeit« nicht mehr anzuerkennen, bereitet sich Simrock auf den Ernstfall seiner Entlassung aus dem Schuldienst vor: Er verdingt sich in den Ferien in einer Brotfabrik, um seine Fähigkeit zu körperlicher Arbeit zu testen.

Immer noch versteht er sich bei alldem nicht als System-Opponent. Seiner neuen Freundin Antonia verschweigt er die wahren Motive seines Abstechers in die Fabrik, denn »zu leicht könnte sie für Opposition halten, was in Wirklichkeit Anteilnahme war, ein Versuch, den Zustand seiner Umgebung und seine sozialistischen Hoffnungen einander näherzubringen«.

Antonias von eigener Erfahrung genährte Überzeugung, »daß Aufrichtigkeit hierzulande nur dann gefragt sei, wenn der Aufrichtige und die Vielzahl seiner Vorgesetzten übereinstimmten«, und ihre daraus resultierende Abkehr von Politik überhaupt lassen ihm noch »die Haare zu Berge stehen«.

Doch dann macht er mit Antonia Urlaub in Ungarn, wo »er sich gleich wohl fühlte«. Und dort, wo »sie wahrscheinlich nicht so leicht schießen«, versucht Antonia -- die nun ihrerseits ihn nicht einweiht -, über die Grenze nach Österreich zu fliehen. Sie wird festgenommen und in der DDR zu einem Jahr und sieben Monaten Gefängnis verurteilt.

In Simrock wächst eine »erdrückende Wut auf die Umstände, die Antonia von ihm trennten«. Jetzt hält er es »für ihr gutes Recht, dorthin zu gehen, wohin sie gehen wollte«, und für eine »unerhörte Anmaßung«, sie, das heißt auch jeden anderen Staatsbürger, »daran hindern zu wollen«.

Vor seiner Schulklasse brüskiert er einen Oberleutnant der Nationalen Volksarmee, der Nachwuchs für den Soldatenberuf anwerben will, mit Detailfragen nach Verdienst, Freizeit und Freizügigkeitsbeschränkungen der NVA-Angehörigen. Danach wird er tatsächlich aus dem Schuldienst entlassen und tatsächlich Arbeiter, Beifahrer der Brotfabrik.

Und als ihm die Schulbehörde eines Tages die Chance eröffnet, wieder Lehrer sein zu dürfen, wenn er nur Selbstkritik übe und künftiges Wohlverhalten verspreche, da lehnt er ab: »Wie können Sie hoffen, ich entschuldigte mich für ein Unrecht, das man mir zugefügt hat? Wie können Sie von mir erwarten, daß ich Dankbarkeit für eine Demütigung aufbringe? Und vor allem: Wie können Sie sich einen Lehrer wünschen, der auf solche Angebote einzugehen bereit ist?«

So entschieden, ja schneidend das klingt, Jurek Beckers Buch ist keines der hitzigen Anklage oder tragischen Verfinsterung. Sein Held in er Ehe gescheitert, aus dem studierten Beruf ausgesperrt, von der Geliebten getrennt, ist am Ende nicht unglücklich. Er hat aufgehört, sich opportunistisch zu verhalten, er hat angefangen, aufrichtig zu leben, das heißt auch: sich zu wehren. Und das heißt keineswegs etwa: mit einer neuen, anderen politisch-moralischen Gewißheit zu leben, sondern immer wieder mit Zweifeln -- »aber gerade das«, fühlt er, »ist vielleicht ein Vorzug«.

Gerade der moderate Ton, die Zimmerlautstärke von Beckers Roman macht die Gesellschaftskritik, die er übt, eindringlich. Auch seine Heiterkeit profiliert seinen Ernst. So sanft Beckers Ironien daherkommen, sie treffen die DDR, ihren »gegebenen Zustand, der ja nicht unerträglich war«, an empfindlichen Stellen, in der Frage der NVA-Werbung so gut wie am Punkt »angeblicher Freiwilligkeit«, bei der verlogenen Glorifizierung der Arbeit durch die »landesübliche Kunst« wie beim Schwindel der Werktätigen"Selbstverpflichtungen«.

Nicht brutale Unterdrückung ist das Thema der »Schlaflosen Tage«, sondern weniger und mehr: die Lebenslüge einer Gesellschaft, in der es »ringsum von Leuten wimmelt, die scheinbar voller Zustimmung sind«.

Der Schriftsteller Jurek Becker ist kein Wortzauberer« kein Stil-Artist. Er erzählt übersichtlich, er ist leicht zu lesen. Dabei beobachtet und formuliert er mit einer schönen, oft zärtlichen Genauigkeit: Ein Ehemann, der sich von seiner Frau peinlich durchschaut fühlt, umarmt sie, »um aus ihrem Blickfeld zu kommen«; Simrock legt seine von der ungewohnten Schwerarbeit am ersten Tag zerschundenen Hände »auf den Tisch wie zwei Orden für Tapferkeit vor dem Feind«.

Ein bißchen zu übersichtlich mag es in Kopf und Herz von Beckers Figuren zugehen, etwas zu denkfleißig, zu bescheidwisserisch im Umgang mit sich selbst will einem der Romanheld Simrock manchmal erscheinen. Doch die humane Vernünftigkeit, die das Buch insgesamt erhellt. sollte uns -- wenn schon nicht dem Land, von dem es handelt -- grundsätzlich willkommen sein.

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