Zur Ausgabe
Artikel 63 / 88

FERNSEHEN Angst vorm Absturz

Die US-Serie »Die Sopranos« handelt von ganz normal gestörten Menschen, die nur zufällig in der Mafia sind.
aus DER SPIEGEL 53/2009

Den dicken Mafiaboss aus New Jersey plagen wieder die Panikattacken, er sitzt bei seiner Psychiaterin auf dem Ledersessel. Nur kurz kann er hier verschnaufen, nachher muss er wieder raus, Schutzgelder eintreiben und Leute umlegen lassen, er muss seine kaputte Ehe ertragen, und dann ist da noch die Schlimmste von allen, seine eigene Mutter.

Der Mafiaboss heißt Tony Soprano. Der Mann, der ihn erfunden hat, heißt David Chase, ein Drehbuchautor und Produzent, der jahrelang an eher mittelmäßigen Serien mitarbeitete. David Chase verdiente gut, aber seine Arbeit machte ihn nicht froh. Eines Tages schrieb er die erste Folge von den »Sopranos«. Er glaubte nicht, dass sie je gesendet würde.

Es war eine Fernsehserie, die gegen alle Gesetze verstieß, die bis dahin für das Fernsehen galten. Die Studios, die Produzenten, die Drehbuchschreiber hatten ihre Zuschauer bis dahin stets für ein bisschen dumm gehalten: In einer Serie durfte eine Handlung nie länger als eine einzelne Episode dauern, denn man musste jederzeit einsteigen können. Die Charaktere durften sich nicht entwickeln, aber meistens war da auch gar nicht viel, was man hätte entwickeln können. Es war die Zeit von Serien wie »Baywatch«, »Emergency Room« oder »Melrose Place«.

»Die Sopranos« sprengten all diese Gewissheiten. Es war ein in Teilen versendeter Riesenfilm, düster und komplex, produziert in Kinoqualität und besetzt mit unbekannten Schauspielern - wenn man alle Folgen zusammenrechnet, ein 86 Stunden langes Epos. Die amerikanischen Kritiker nannten es ein »Megamovie« und verglichen es mit Rainer Werner Fassbinders »Berlin Alexanderplatz«.

Die Serie erzählt eine Geschichte über die Mafia, aber mehr noch ist es eine Geschichte über die Krise der amerikanischen Vorstadt und des ganzen Landes. Tony Soprano, der Mafiaboss von New Jersey, ist ein Mann Anfang vierzig, der das Familiengeschäft von seinem Vater geerbt hat und der versucht, Frau und Kinder durchzubringen, in einer Zeit, in der, so heißt es in einer der Folgen, nur »die Typen bei Enron« das große Geld machen. Er ist ein Mann, der tagsüber mit seiner Tochter Colleges besichtigt und nachts Überläufer ermorden muss, und es ist kein Wunder, dass er den Druck nicht erträgt, dass ihn die Angst packt und dass auch seine Psychiaterin ihm nicht wirklich helfen kann.

»Die Sopranos« handeln von ganz normal gestörten Menschen, die zufällig in der Mafia sind und die in einer Welt im Schatten des 11. September leben, gezeichnet von Unsicherheit und der Angst vorm Absturz, und es liegt eine besondere Ironie darin, dass sie in genau jenen amerikanischen Vorortshäusern wohnen, deren dramatischer Wertzerfall wenige Jahre später die größte Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren auslösen sollte.

Die Serie lehrte die Studios, die Produzenten und die Drehbuchschreiber, dass es möglich ist, mit intelligentem, aufwendig produziertem Stoff ein Massenpublikum zu begeistern. Regelmäßig schalteten über zehn Millionen Menschen pro Folge den Bezahlkanal HBO ein. Und so revolutionierten »Die Sopranos« nicht nur das Prinzip der Serie, sie verwandelten das Fernsehen in ein Medium für Erwachsene.

»Die Sopranos« bereiteten den Weg für eine ganze Reihe großer Serien. Für »The Wire« zum Beispiel, die Geschichte einer Polizeiermittlung gegen die Drogengangs von Baltimore und gleichzeitig das Porträt einer zerfallenden amerikanischen Großstadt. Aber auch für »Six Feet under«, für »Deadwood« und für »Mad Men«, den jüngsten Höhepunkt des Genres: Angesiedelt in einer Werbeagentur der sechziger Jahre, erzählt »Mad Men« in opulenten Bildern von einer Zeit, in der Männer noch Männer sind, in der perfekte Anzüge tiefe Abgründe verbergen und in der die Gewissheit noch intakt ist, dass es immer aufwärtsgehen wird. »Mad Men« erzählt von einem verlorengegangenen Amerika.

Das Megamovie ist das Fernsehformat der nuller Jahre. Es wurde zum Stoff für die Partygespräche der gebildeten urbanen Klasse, und es nahm den gesellschaftlichen Platz ein, den bis vor wenigen Jahrzehnten noch der Roman innehatte. Die Komplexität und Größe der Stoffe, die es erzählt, sind vielleicht vergleichbar mit den epischen Romanen des 19. Jahrhunderts, mit »Krieg und Frieden« oder »Die Brüder Karamasow«.

Der Erfolg ist nicht denkbar ohne den Siegeszug der DVD. In Sammlerboxen leben die längst versendeten Folgen weiter, sie werden getauscht und noch heute zum ersten Mal entdeckt. Die DVD hat die Flüchtigkeit des Fernsehens aufgehoben, und viele der besten Serien wären ohne sie wohl nie nach Deutschland gelangt. Denn in Deutschland halten die Fernsehmacher die Menschen immer noch für ein wenig dumm. Sie haben nie etwas zustande gebracht, was mit den »Sopranos« vergleichbar wäre, und viele der besten amerikanischen Serien haben die deutschen Anstalten nie ausgestrahlt.

Immerhin liefen »Die Sopranos« im ZDF, drei Staffeln nur, versteckt zuletzt im Programm der Sonntagnacht.

MATHIEU VON ROHR

Zur Ausgabe
Artikel 63 / 88
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren