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Artikel 69 / 86

Peter Hamm über Ludwig Fels: "Mein Land" Armes Deutschland

Peter Hamm, 41, ist Schriftsteller und Rundfunk-Redakteur in München. -- Ludwig Fels, 32, lebt zur Zeit in Hamburg und veröffentlichte bisher drei Gedichtbände, Erzählungen und einen Roman ("Die Sünden der Armut").
aus DER SPIEGEL 42/1978

Heinrich Böll hat 1961 einmal abzurechnen versucht mit dem bundesrepublikanischen Credo des »Hast du was, bist du was«, das damals sogar als Werbeslogan zu einer Sendezeit, in der durchaus noch Kinder und Jugendliche vor dem Bildschirm saßen, tagtäglich in die deutsche Fernsehfamilie hineinposaunt wurde. Keiner der moralgepanzerten Kirchenfürsten oder Politiker reagierte auf Bölls moralischen Appell.

Seit einigen Jahren ist immer wieder ein Werbespruch zu hören, der so beginnt: »Auch wir haben nichts zu verschenken Eine derartige Prämisse beleidigt offenbar keinen von denen, die das hohe C sogar im Parteischilde führen, von frommen Funk-Funktionären einmal ganz abgesehen. Daß Geben seliger denn Nehmen sei, hört man vielleicht einmal von einer Vorstadt-Kanzel herab, aber das Gleichnis vom Nadelöhr, durch das eher ein Kamel geht, als ein Reicher kommt, das hört man nicht einmal mehr dort. Armut ist Sünde und Reichtum oberste Bürgerpflicht in der Bundesrepublik.

Wie arm dieses Land dennoch ist, und keineswegs nur im übertragenen Sinne, wie viele seiner Bewohner sich nicht in der Lage sehen, dieser Bürgerpflicht ohne äußere und innere Schäden nachzukommen, wie viele auf der Strecke geblieben sind, das erfährt man sicher nicht aus BRD- oder EWG-Statistiken, gelegentlich aber aus literarischen Werken, eindringlich wie ganz selten zuvor aus einem soeben erschienenen schmalen Bändchen, das von seinem Autor kurz, aber sicher nicht schmerzlos »Mein Land« betitelt wurde.

Es ist kein Zufall, daß dieser Autor. der heute 32 Jahre alte Ludwig Fels aus Nürnberg, ein früheres Buch, einen Roman mit stark autobiographischen Zügen, »Die Sünden der Armut« überschrieben hai.

Fels, der lange Hilfsarbeiter war und zuletzt als Packer »am Fließband die Stunden abriß«, ist diesen Sünden treu geblieben, auch sein neues Buch, das ausschließlich ganz kurze Geschichten enthält, konfrontiert mit jener Armut, die -- manifestiere sie sich nun materiell oder psychisch -- doch stets das Resultat des offiziell geförderten Kampfes JEDER GEGEN JEDEN ist.

Armut ist ja immer etwas Relatives. Ein Hamburger Arbeiter kann sich. trotz 1000 DM mehr Lohn und einer heizbaren Wohnung samt Bad, ärmer fühlen als der anatolische oder algerische Bauer, der in seiner Umgebung nur Schicksale seinesgleichen kennt und noch glaubt, daß gerecht ist, was immer schon so war. Der Zwang zum Aufstieg, zum up to date, der hierzulande herrscht, richtet ehen unter Umständen schlimmere Verwüstungen an als das bloße Nichts-Haben, zumal jene Kultur der Armut, die sieh in den von uns so gerne und gedankenlos als »unterentwickelt« bezeichneten Ländern, aber auch bereits in Portugal, Spanien oder Italien beobachten läßt, bei den an die Peripherie der hiesigen Wohlstandsgesellschaft Gedrängten nicht existiert; sie können mit Solidarität nicht rechnen, sie gelten schlicht als Versager. Fels ist die Ausnahme, versucht Solidarität zu üben, wenigstens schreibend -- sie beschreibend -- gemeinsame Sache mit diesen Versagern zu machen.

Während die meisten seiner Autoren-Kollegen auf das Seelenleben des Mittelstandes (aus dem sie meist stammen> fixiert sind und nur äußerst selten Alibiausflüge auf dem Papier in die sozialen Niederungen unserer Gesellschaft unternehmen, kann und will Fels nie verleugnen, daß er selbst aus diesen Niederungen stammt. Die gerne beschworene Neue Sensibilität hat Fels um eine entscheidende Nuance, um eine plebejische nämlich, bereichert: Seine Sensibilität funktioniert nicht nur vor der komplizierten Innenwelt des spätbürgerlichen Bewußtseins, sondern auch vor der armseligen Außenwelt der kleinbürgerlichen Bewußtlosigkeit.

In einem seiner früheren Gedichte schrieb Fels über eine verstorbene Arbeiterin: »Man hat dich verbraucht / ... zum Trost schwärmte man von deiner Zähigkeit:« Solch falschen Trost verbietet sich Fels, er versucht statt dessen, die große Wut über den Verbrauch von Menschen, die in ihm ist, am Kochen zu halten -- auch wenn das oft ziemlich schwerfällt, denn (wie er in einem Interview einmal bekannte): »Meine Angst macht mir oft die Wut über die Mißstände kaputt, dadurch werde ich wütend auf die Angst.« In Wahrheit legitimiert aber gerade erst diese Angst die große Wut des Ludwig Fels, bewahrt ihn davor, nichts als ein wütender Besserwisser oder ein krakelnder Kumpan derer zu werden, denen ein Kumpan mehr gar nichts, ein ängstlich aufmerksamer Autor aber vielleicht ein klein wenig nützt.

Wie aufmerksam dieser Fels ist, das verrät vor allem sein untrügliches Gehör für Sprachnuancen, der Jargon der Angestellten ist ein anderer als der der Arbeiter und Arbeitslosen. Wie es eine Aufsteiger-Sprache gibt, gibt es auch eine Absteiger-Sprache. Verstümmelt und verarmt sind sie beide, doch während die eine bei Werbe- und Politparolen Kraft sucht, flüchtet die andere in eine ebenso drastische wie plastische, oft dialektgefärbte Metaphorik. Bei beiden reicht es allerdings meist nur zu kurz herausgestoßenen Hauptsätzen, so. als fehlten für Nebensätze die Notwendigkeit und das Vermögen.

Auffallend, wie mager im Felsschen Personal die Rolle derer ist, die den Kopf ein wenig über die allgemeine Misere hinauszustrecken erlernt haben. Daß es einmal ein Jahr 1968 gab, das doch auch diesen Autor auf die linke Bahn gewiesen hat, ist kaum noch zu ahnen. Der 1974 von Fels publizierte Erzählungsband »Platzangst« (der übrigens jetzt in »Mein Land« noch einmal nachgedruckt ist, was nachzuprüfen erlaubt, wie entschieden sich Fels weiterentwickelt hat), dieser frühe Erzählungsband endete mit der kategorischen Forderung: »Ich brauch« einen Genossen«.

Der jetzige Band »Mein Land« beginnt mit einem Text, der einem Eingeständnis gleichkommt, daß Fels diesen Genossen -- geschweige denn mehrere -- inzwischen nicht gefunden hat. Fels muß im Gegenteil feststellen, daß die »guten alten Freunde« von einst jetzt zur »Mehrheit der Grüßgottsager und Händeschüttler und Weitermüsser« jenes Landes gehören. dessen »Eilandbewohner ihre Gedanken und Gefühle verzehrt, Liebe und Schmerz verfressen« haben.

Dieses Land »BRGermany ist eine Festung, Bankgebäude sind die Wachtürme. ich bin in Einzelhaft, man füttert mir Geld, das den Hunger nach Leben nicht sättigt«. Aber doch betäubt. Und, das Schlimmste, diese Betäubung erscheint sogar noch als Halt: »Eigentlich darf ich nicht zur Besinnung kommen, sonst krieg' ich Angst vor dem, was ich tue« heißt es in einem »Berufsbild« überschriebenen Text. Und dem verstorbenen Lieblingsonkel ruft Fels in einer anderen Geschichte den schauerlichen Satz nach. »Du hast Glück gehabt und das Bewußtsein nicht wiedererlangt.« Ernst Krauler, der geschundene jugendliche Held des Romans »Die Sünden der Armut«, hatte schon ganz Ähnliches gesagt: »Nur nicht denken. Wenn ich anfange zu denken, bin ich verloren.« Er hätte auch sagen können: dann bin ich ein Radikaler, ein Bombenschmeißer oder Sympathisant von Bombenschmeißern.

Die vielen hochgebildeten und hochbezahlten Damen und Herren. die sich Woche für Woche in Fernsehdiskussionen, Akademie- und Podiumsgesprächen die Köpfe zerbrechen über die Ursachen des Terrorismus und über deren Köpfen unsichtbar immer die Sprechblase schwebt: Wie isses nur möglich!, sie sollten vielleicht einmal zu einem Buch wie »Mein Land« greifen, um zu erfahren, was einen jungen Menschen wie Fels fürchten läßt, Denken sei gleichbedeutend mit Verlorengehen oder Explodieren, was ihn ausrufen läßt: »Auch ich möchte manchmal morden.«

Aber natürlich ist es bequemer, die Bitterkeit und den Haß jener Versager, derer sich Fels annimmt, einfach zu ignorieren. Zu ignorieren den Arbeitslosen Eddi, der jeden als Gegner behandelt und nachts vor den Kneipen »Besoffne absahnt«, »an den Wochenenden begibt er sich auf Schwulenhatz. mäht mit Zaunlatten und Fahrradketten in den öffentlichen Pissoirs die Arschangler nieder, und wie ein Held geht er anschließend vornehm speisen«; zu ignorieren den Jugendlichen im Knast, »ein Fall unter Fällen, der einmal mit Gewalt Geld raubte, genau wie jeder Kapitalist«, und dessen »Briefe angeschwollen sind von einem Haß, der ihm erst gefährlich wird, wenn er wieder hier draußen ist«.

Zu ignorieren den alten kinderlosen Arbeiter von Audi-NSU, den es auch am Samstag nicht im Bett hält, der schon vor Geschäftsbeginn in der Innenstadt ist, »er geht zum Kaffeetrinken zu EDUSCHO, weil bei TCHIBO das Rauchen verboten ist«, später besäuft er sich rasch, weil er Angst hat vor zu Hause, »er sagt, er habe morgen Geburtstag, sei ein Sonntagskind, dann verliert er auch schon den Verstand, weil die Granatsplitter in seinem Hirn das Nervengift in den Enzianstamperin nicht vertragen«; zu ignorieren den verwitweten Rentner, dem die früher viel zu enge Wohnung jetzt viel zu groß ist und der die längst aufgeklärten Mordfälle in weggeworfenen alten Zeitungen noch einmal löst, »mit Müh und Not kann er sich grad noch an seinen Spitznamen erinnern weil an ihm alles so farblos scheint, halten ihn manche Leute für blind Lachen rührt ihn zu Tränen«.

Aber auch die vielen, die es scheinbar zu etwas gebracht haben, sind verfolgte Verfolger, fühlen einen Haß in sich, der ein weit größeres terroristisches Potential darstellt als alle Anarchistenhirne zusammen.

Da ist das Bundeswehr-Ehepaar mit dem Sauberkeits-Wahn und dem ewig schreienden Baby, das »wie Koitusabfall« behandelt wird, »seine Eltern erziehen sich an ihm zu den Vorgesetzten seines Lebens«; oder das andere Ehepaar. Sekretärin und Bürobote, das »moderne Partnerschaftsbeziehungen« propagiert und zu dessen Bekanntenkreis auch ein Polizist gehört, »wenn dieser in Uniform bei ihnen erscheint, fühlen sich die beiden sofort sicher und verurteilen die Proletenregierung«; und da ist der Angestellte mit dem »dezenten Binder«, der vom eigenen Chauffeur träumt, aber dann schon zufrieden darüber ist, daß er von allen im Büro »mit Sie und mit Herr angeredet«, und daß ein Lehrling, der ihm nicht paßt. auf seinen Tip hin vom Personalrat »sofort zur Schnecke gemacht« wird, »von solchen Wichsern, denen die Unterhose im Schritt knirscht, brauch ich mir nichts gefallen zu lassen«; oder der ledige leitende Angestellte, der an Freßsucht leidet und vor der ersten Verabredung mit einer Sekretärin beschließt. für sie wenigstens ein Pfund sofort abzunehmen, sich aber beim überraschenden Fitneß-Programm so verausgabt, daß er zusammenbricht. »dann zuckten plötzlich seine Glieder, als wollten die Knochen das Gewicht des fetten Fleisches abwerfen«.

Es ist nur logisch, daß Ludwig Fels einen seiner kurzen Texte, in dem ausschließlich Leute vorkommen, die im allgemeinen als erbitterte Terroristenjäger gelten, »Terroristen« betitelt hat: »Das Land is voll von ihnen. In den Städten bemerkt man sie auf Schritt und Tritt. Sie stehen ihr Leben lang stets zur selben Zeit auf, waschen sich ein bißchen und hetzten, mit einem Stück Brot oder einer Zigarette im Mund, davon ... Die wirklichen Terroristen spielen in der Vesperpause Hinrichtung. Opfer finden sich in jeder Zeitung ... Frauen und Kinder müssen ihre Sympathisanten sein.

»Diese Terroristen sind um ein Vielfaches grausamer als die Kapitalisten. Sie mähen und stanzen, säbeln nieder, sie eggen und schleifen, ernten Rüben, rollen wie Mastmurmeln durch die Straßen, und ihre Gedanken wohnen in Schaufenstern. An Polizisten können sie lediglich den Tempopeiler nicht leiden. Ihre Söhne schicken sie bereitwillig aus den Mietkasernen in die Bundeswehrkasernen, ihre Töchter am liebsten ebenfalls. In Scharen strömen sie ziellos umher und lechzen nach Mord und Totschlag. nach Vergewaltigungen, Räuberpistolen und blutroten Anschlägen. Der harte Kern ist gut gepolstert; und sie, das Fruchtfleisch, verehren ihn als Ernährer. Sie wollten, daß alle dran glauben müssen.«

Kein Zweifel. das Land, das Ludwig Fels »Mein Land« nennt, ist unser Land. Auch wenn mancher meinen wird, daß Fels zu weil geht, aber -- wie Böll es formuliert hat -- ein Schriftsteller muß zu weit gehen, wenn er auch nur das Nächstliegende problematisieren möchte. Und unbestreitbar verletzt Fels oft das Schamgefühl von Leuten, deren Scham sich nur vor Sexuellem regt, aber nicht vor Gastarbeiter-Unterkünften, Gefängniszellen oder Polikerreden.

Auch stilistisch ließen sich etliche Einwände vorbringen. So wie der zitierte Terroristen-Text besser und unangreifbarer wäre, wenn er »die wirklichen Terroristen« eben ohne das Adjektiv hätte auskommen lassen. gibt es auch andere vermeintliche Verdeutlichungen, die in Wahrheit nur agitatorische Plattheiten sind Oder es gibt Wortspiele. die unter Stammtisch-Niveau sind ("das Kind mit dem Baader ausschütten")

Als 1974 der Erzählungsband »Platzangst« erschien, schloß Christian Schultz-Gerstein seine sehr zustimmende Besprechung in der »Zeit« mit dem Geständnis, er halte dieses Buch für nicht rezensierbar, »denn an den häufigen kurzlebigen Wortspielen und Pointen herumzunörgeln. hieße das asthmatische Bewußtsein des Verfassers schuldig sprechen, hieße so zu tun, als ob die »Platzangst« dieses Bewußtseins Mangel an literarischem »Talent« und nicht ein sozialer Mangel wäre«.

Derartige Entschuldigungen braucht Ludwig Fels heute sicher nicht mehr, er ist rezensierbar geworden. Zu wünschen wäre aber, daß er nicht nur rezensiert, sondern auch gelesen würde. Seine Geschichten haben den Mut und die Kraft, die übliche antrainierte Wohltemperiertheit gerade jener kleinen Schicht, die in diesem armen Deutschland überhaupt noch des Lesens kundig und willig sind, empfindlich, aber heilsam zu gefährden.

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