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SÄUBERUNGS-LITERATUR Artikel 58

aus DER SPIEGEL 40/1967

»Verdoppelt, verdreifacht an diesem Grabstein die Wachen!« beschwor Jewgenij Jewtuschenko 1962 die Regierung seines Landes.

Die Warnung des sowjetischen Lyrikers vor einer Wiederauferstehung Stalins und seiner Vergangenheit, adressiert an »Stalins Erben« (so der Gedicht-Titel), steht als Motto einem Buch voran, das eben jene Vergangenheit wiederauferstehen läßt, wenn auch nicht im Sinne Stalins und seiner gegenwärtigen Erbwalter.

Ohne Erlaubnis der Sowjet-Behörden, die eine russische Ausgabe in Rußland verhinderten, erscheint in diesem Herbst in acht europäischen Ländern sowie in Amerika

> die Autobiographie der Jewgenija Ginsburg, die 18 Jahre in Stalins Straflagern verbrachte -- deutsch unter dem Titel »Marschroute eines Lebens« (Rowohlt Verlag, Reinbek; 400 Seiten; 20 Mark).

Und es ist nicht die einzige Neuerscheinung, die (von den Swetlana-Memoiren ganz abgesehen) zum Jubelfest der Oktober-Revolution einen unfestlichen Beitrag leistet. Auf den deutschen Büchermarkt gelangen in diesen Wochen noch zwei weitere Zeugnisse jenes unablässig und ununterdrückbar anschwellenden russischen Schrifttums, für das englische Kritiker den Gattungsbegriff »Säuberungsliteratur« (purge literature) erfanden:

> der Roman »Ein leeres Haus« von Lydia Tschukowskaja (Diogenes Verlag, Zürich; 232 Seiten; 16,80 Mark) und

> der Erlebnisbericht »Artikel 58« von Warlam Schalanow (Middelhauve Verlag, Opladen; etwa 220 Seiten; 16,80 Mark).

Die »Aufzeichnungen des Häftlings Schalanow« (Untertitel) sind bisher· weder in der Sowjet-Union noch in einem anderen Land veröffentlicht worden. Wie sie nach Westdeutschland gelangten, will Verlegerin Gertraud Middelhauve nicht verraten.

Autor Schalanow, 60, ehemals Jurist und heute in Moskau lebend, wurde 1938 nach dem berüchtigten Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches aber »gegenrevolutionäre Verbrechen« verurteilt und verbrachte über ein Jahrzehnt in verschiedenen Straflagern -- die schlimmste Zeit im Lager Kolyma in Nordsibirien.

Sein Erstlingsbuch zeichnet die Elendsstereotypen des Häftlingsdaseins in dreißig knappen Zustandsberichten nach: »Die eingesunkenen, glänzenden Augen Bagrezows starrten unverwandt auf Glebows Lippen -- wie alle anderen hatte er einfach nicht die Kraft, die Augen vom Essen abzuwenden, das im Mund eines anderen verschwand ...«

Anders als Schalanow beschrieb Lydia Tschukowskaja, 60, die 1966 den sowjetischen Literatur-Nobelpreisträger Scholochow wegen seiner Schmähungen auf die verurteilten Kollegen Sinjawski und Daniel offen kritisierte, nicht das Leben im Lager, sondern den Terror, der ihm vorausging.

Ihr Roman »Ein leeres Haus« entstand 1939 in Leningrad, wurde 25 Jahre hindurch versteckt gehalten, zirkulierte dann in Abschriften und wurde 1965 »ohne Wissen« der in Moskau lebenden Autorin auf russisch in dem Pariser Verlag »Librairie des Cinq Continents« veröffentlicht. Französische, englische und deutsche Ausgaben erscheinen nun gleichzeitig in Paris, New York, London und Zürich. Roman-Heldin Olga Petrowna, Witwe, Verlagssekretärin und überzeugte Kommunistin, erlebt, wie unter den um 1937 sich ausbreitenden »Säuberungen« in ihrer Umgebung Mißtrauen und Furcht um sich greifen. Schließlich wird auch ihr Sohn, ein hochbegabter Ingenieur und, wie seine Mutter; überzeugter Kommunist, verhaftet und in ein Lager gebracht, aus dem er nicht zurückkommt.

Der Roman, den »Times Literary Supplement« als »genauso bedeutend wie Solschenizyns »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitseh«, lobte, hat Anklänge an das Schicksal der unter Stalin verfemten Lyrikerin Anna Achmatowa, deren Sohn ebenfalls in der Haft umkam. Einer Zeile ihres »Requiems«, eines berühmt gewordenen Gedichts über den Stalin-Terror, ist der Titel des Tschukowskaja-Romans, »Ein leeres Haus«, entnommen.

Der Roman endet ohne Hoffnung. Sein Ende ist um so trostloser, als die Autorin ihrer Heldin jedes Verständnis für die Macht verweigert, die ihr und ihres Sohnes Leben zerstört.

Das liegt kaum an der individuellen Schlichtheit und Gutgläubigkeit der Roman-Figur Olga. Auch höhergestellte Parteimitglieder verstanden die Welt um 1937 nicht mehr -- wie die Memoiren der Jewgenija Ginsburg, »Marschroute eines Lebens«, zeigen, die 1967 im Mailänder Verlag Mondadorizunächst auf russisch, dann in italienischer Übersetzung erstveröffentlicht wurden und der in Moskau lebenden Autorin die Ungnade der Sowjet-Behörden eingetragen haben.

Als die Ginsburg, Mutter des Lyrikers Wassilij Axenow, 1937 wegen angeblich trotzkistischer Umtriebe in einer nur wenige Minuten dauernden Verhandlung zu zehn Jahren Einzelhaft verurteilt wurde -- später begnadigte man sie zu Zwangsarbeit in Kolyma -, war sie Journalistin, Lehrerin, Parteimitglied und Frau eines hohen Funktionärs von Kasan gewesen.

Trotz ihrer bevorzugten Position war es der treuen Kommunistin unmöglich, den Sinn der Stalinschen Säuberungen zu begreifen. Ihr Buch, bedeutendstes der drei neuen Werke der Säuberungs-Literatur, zeigt, wie die Verdammungsurteile der Partei, die Klassifikation der Verfolgten in Menschewiken, Trotzkisten, Rechts- oder Linksabweichler, unter den Opfern fortwirkten, wie die Häftlinge in den Lagern oft weiterhin dieselbe Denkweise praktizierten, der sie zum Opfer gefallen waren.

Unfähig, wie auch Lydia Tschukowskajas Roman-Heldin Olga Petrowna, dem Millionen-Mord einen Sinn abzugewinnen, richtet sich Jewgenija Ginsburgs Anklage schließlich gegen die Person Stalins und gegen seine engsten Mitarbeiter, nicht jedoch, und auch darin gleicht sie Olga, gegen den Sowjet-Kommunismus.

»Selbst jetzt, nach allem, was geschehen war«, so erinnert sich die Autorin an ihre Leidenszeit, »hätten wir uns nie für ein anderes System als das sowjetische entschieden.«

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