FORSCHUNG Auf dem Sterbebett
Der Mailänder »Corriere della Sera« nannte es den »technologischen Selbstmord Europas«. Die »Frankfurter Rundschau« fand: »Prestigedenken stoppt Zukunftsprojekt.«
Die Nachrufe galten dem Forschungsvorhaben »Jet"*, das als gemeinsames Experiment der EG-Länder die Energie-Zukunft Europas sichern könnte: Mit »Jet« sollten die technischen Bedingungen der Energiegewinnung durch kontrollierte Verschmelzung (Fusion> von Wasserstoff-Atomkernen erkundet werden.
Seit mehr als einem Jahr währt das Gerangel um Standort, Finanzierung und personelle Besetzung des zwei Milliarden Mark teuren Fusionszentrums. Als Bewerber waren bislang ernsthaft im Gespräch: Italien mit dem Euratom-Zentrum Ispra am Lago Maggiore, Großbritannien mit dem Standort Culham und die Bundesrepublik, deren Fusionsforschung seit Jahren im Max-Planck-Institut für Plasma-Physik in Garching nahe München konzentriert ist.
In der Vorweihnachtswoche hätte die Entscheidung fallen sollen. Als Favorit galt die Bundesrepublik, der zahlungskräftigste »Jet«-Partner. Doch die geplante Sitzung der EG-Forschungsminister platzte. Frankreich hatte drei Tage vorher die ultimative Forderung gestellt, das französische Atom-Forschungszentrum Cadarache als »Jet«-Standort zu bestimmen. Nun droht das
* »Joint European Torus« -- »Vereinigter Europäischer Torus (Torus. von lat. Wulst, bezieht sich auf die Wulstform der Reaktionskammer).
gesamte Vorhaben zu scheitern: »Jet«, konstatierte letzte Woche Guido Brunner, deutscher Forschungs-Kommissar bei der EG, liege »auf dem Sterbebett«.
Mit der Forschungsanlage »Jet« wollen die Physiker durch Zähmung der Wasserstoffbombe das Energieproblem für alle Zeiten lösen.
Damit eine Kernfusion in Gang kommt, muß ein Gemisch aus den Wasserstoff-Isotopen Deuterium und Tritium auf mehr als 100 Millionen Grad aufgeheizt werden. Gigantische Magnetringe halten das elektrisch aufgeladene Gasgemisch (Plasma> gefesselt, um es in seiner Form und von der Metallwandung des Gefäßes fern zu halten (siehe Graphik).
Ein Fusionsreaktor nach diesem Modell hätte unschätzbare Vorteile: Der Vorrat an Wasserstoff als Brennmaterial ist praktisch unbegrenzt. Jedes Gramm des Isotopengemischs würde nahezu 100 000 Kilowattstunden elektrischen Strom erzeugen -- zehn Kilogramm Brennmaterial pro Stunde würden ausreichen, den gesamten Strombedarf der USA zu decken.
Überdies würde beim Fusionsreaktor kein militärisch brauchbarer Abfall wie etwa Plutonium entstehen: und auch bei einer Reaktorkatastrophe gäbe es keine radioaktive Verseuchung der Umwelt.
Nur Spekulationen gibt es bislang darüber, was die Franzosen zu ihrem plötzlichen Vorstoß im »Jet«-Ringen veranlaßt haben mag. Anscheinend befürchtet Frankreich, daß ein »Jet«-Standort etwa in Garching den Deutschen einen Vorsprung für den späteren Bau und den Export auch von Fusions-Kraftwerken sichern würde.
Gewinner, wenn das europäische »Jet«-Vorhaben scheitert, wären die Konkurrenten bei der Entwicklung des Fusions-Reaktors: die USA, Sowjet-Union und Japan. Der Vorsprung, den die Europäer bislang auf diesem Forschungsgebiet hatten, ist ohnehin fast schon vertan (siehe Interview).
Mit einem Kompromißgeschäft hofft Bonns Forschungs-Bürokratie, Frankreich in der »Jet«-Frage doch noch umstimmen zu können: Ein deutsch-französisches Radioteleskop, das eigentlich in Spanien errichtet werden soll, könnte zur Kompensation in die Nähe von Grenoble verlegt werden.
Für den Fall jedoch, daß die Franzosen auf ihrem Standortwunsch für »Jet« beharren, haben die Rest-Europäer, als »entfernte Möglichkeit« (so ein Matthöfer-Beamter), den Alleingang erwogen. Theoretisch ließe sich das »Jet«-Vorhaben auch als deutschitalienisch-englisches Gemeinschaftsprojekt verwirklichen.
Doch in Bonn wird eher die »Jet«-Totenklage angestimmt. Die Kosten für die Bundesrepublik -- bisherige Schätzung etwa 400 Millionen Mark allein für die Bauzeit bis 1980- würde sich glatt verdoppeln.
Hinzu kommt die Befürchtung einer europäischen Kettenreaktion: Die Franzosen könnten sich, Zug um Zug, auch aus anderen Gemeinschaftsprojekten zurückziehen.