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MUSICAL Auf der Feuerleiter

aus DER SPIEGEL 47/1957

Anfang Oktober lieferten sich im New Yorker Stadtteil Manhattan zwei Cliquen von Halbstarken mit Schlagringen und Messern eine blutige Straßenschlacht, an deren Ende zwei Jugendliche tot auf der Straße liegenblieben. Der Zwischenfall, der in der Chronik amerikanischer Riesenstädte schon längst keine Besonderheit mehr darstellt, lieferte den New Yorker Boulevard-Zeitungen einige beiläufige Schlagzeilen und wurde bereits wenige Tage später nicht weiter erwähnt.

Eine andere Straßenschlacht zwischen Halbstarken dagegen, die ein paar Straßenzüge weiter, im »Winter Garden« am Broadway, allabendlich vorgeführt wird, ist bis heute in der Diskussion geblieben. Es handelt sich um das Musical »West Side Story«, in dem die Problematik der Halbstarken zum erstenmal auf eine Bühne gebracht wird. Das amerikanische Nachrichtenmagazin »Newsweek« registrierte das Halbstarken-Musical als »die erste Sensation« der neuen Broadway-Saison.

Der kräftige Erfolg, den die »West Side Story« beim New Yorker Publikum und bei vielen Kritikern hatte, ist mit aller Sorgfalt vorbereitet worden. Der Veranstalter, Roger Stevens, investierte in diese Produktion nicht weniger als 700 000 Dollar - rund 3 Millionen Mark - und sicherte sich für sein Unternehmen die Mitarbeit von drei Männern, deren Namen am Broadway bereits als eine Art Garantie für Erfolg gelten.

Komponist der »West Side Story« ist der 39jährige Harvard-Eleve Leonard Bernstein, der als Dirigent gemeinsam mit Dimitri Mitropoulos die New Yorker Philharmoniker leitet und, unter anderem, bereits drei Musicals komponiert hat. Das Libretto verfaßte der junge amerikanische Dichter Arthur Laurents, die Choreographie hatte Jerome Robbins, der zusammen mit George Balanchine eine Ballett-Truppe leitet, die vielen Kritikern als die beste der Welt gilt: das New York City Ballet. Robbins hat bereits mehrere erfolgreiche Broadway-Musicals inszeniert, darunter »Der König und ich« und »Peter Pan«.

Die drei Broadway-Fachleute, die gemeinsam für ihr Halbstarken-Musical eine Handlung zusammenbastelten, holten sich

Rückendeckung bei einer berühmten Liebesgeschichte, deren Publikumswirksamkeit durch Jahrhunderte unbestritten ist: bei dem Stoff von Romeo und Julia, den Liebesleuten aus Verona, deren Familien miteinander verfeindet sind. Romeo verwandelte sich am Broadway in einen Halbstarken, Julia in einen Teenager

Der Streit der feindlichen Familien Montague und Capulet wird in der »West Side Story« durch die Konkurrenz zweier jugendlicher »Gangs« symbolisiert, deren Rivalität durch die Elternhäuser freilich begünstigt wird.

Die Handlung des Musicals spielt in West-Manhattan. In diesem Stadtviertel das Libretto spiegelt wahrheitsgetreu ein örtliches Problem - siedeln sich in zunehmendem Maße spanisch sprechende Einwanderer aus Puerto Rico an, die von den übrigen Bewohnern, Abkömmlingen europäischer Einwanderer, mit äußerstem Mißtrauen beobachtet werden.

Das Terrain, das die reicheren Europäer freigeben, wird von den nachdrängenden Mittelamerikanern zumeist schnell besetzt. Im Zuge dieser Bevölkerungsbewegung ergibt sich, in der »West Side Story«, für die Halbstarken dieser Gegend eine Art militärisches Problem. Die halbstarken Kinder europäischer Einwanderer - sie nennen, sich »jets« (Düsenjäger) - können sich mit den Abkömmlingen der mittelamerikanischen Einwanderer, den »sharks« (Haifische) nicht darüber einigen, wem die Kontrolle über eine Straße im Niemandsland zwischen den Bevölkerungsgruppen zusteht

Statt der Nachtigall die Music box

Diese Halbstarken-Problematik bietet allerdings nur das Panorama für die Romeo und-Julia-Geschichte zwischen Tony, der aus einer polnischen Familie stammt, und Maria, deren Eltern erst wenige Wochen zuvor aus Puerto Rico eingewandert sind. Die Parallele zu Shakespeares berühmter Tragödie wird von den Broadway-Autoren bis in die Details geführt. Aus Shakespeares Balkon-Szene und den Dialogen ("Es war die Nachtigall ... ) ist in der »West Side Story« ein Gespräch geworden, das Tony und Maria auf der Feuerleiter einer Mietskaserne führen. Die beiden Liebenden hören dabei allerdings weder Nachtigall noch Lerche, sondern Schlager aus dem Musikautomaten des benachbarten Drugstore.

Die Nachfolger der Montagues und Capulets unterscheiden sich auch streng in ihrem musikalischen Geschmack. Während die »jets« für Jazz schwärmen, begeistern sich die »sharks« ausschließlich für kubanische Tänze wie Cha-Cha-Cha und Mambo. Zwar geben die beiden Teenager in einem gemeinsamen Song ihrer Überzeugung Ausdruck, daß ihnen die Welt auch angenehmere Aspekte bieten wird. Doch geht, wie in Shakespeares Tragödie, auch die Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria unglücklich aus: Romeo-Tony wird erschossen.

Um die »West Side Story« angemessen aufzuführen, haben die Veranstalter nach ihren Angaben die »größte Talentsuche in der Geschichte des Broadway« veranstaltet, die sich über acht Monate hinzog. Unter den Schauspielern waren nicht genügend geeignete Kräfte zu finden, die in der Lage waren, Halbstarke auf der Bühne glaubwürdig darzustellen. Das Register der Mitwirkenden enthielt am Ende nicht einen einzigen Starnamen.

Dieser Mangel konnte allerdings den Erfolg des Unternehmens nicht gefährden. Fast die gesamte New Yorker Presse applaudierte der Darbietung, die von einigen Kritikern, der erlesenen Tanzeinlagen wegen sogar als eine »Vollendung« des Genre Musical bezeichnet wurde. Die Eintrittskarten zur »West Side Story« sind für den Rest des Jahres 1957 ausverkauft.

»West Side Story« am Broadway: Romeo und Julia in Manhattan

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